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Landgericht Frankfurt am Main Urteil vom 26.08.2021 - 2-30 O 154/21 - Unterlassungsanspruch gegen Abfrage der Geschlechtsidentität in einem Pflichtfeld

LG Frankfurt am Main v. 26.08.2021: Unterlassungsanspruch gegen Abfrage der Geschlechtsidentität in einem Pflichtfeld


Das Landgericht Frankfurt am Main (Urteil vom 26.08.2021 - 2-30 O 154/21) hat entschieden:

   Die Abfrage der Geschlechtsidentität in einem als solches gekennzeichneten Pflichtfeld verletzt die Rechte einer Person mit nicht binärer Geschlechtsidentität und begründet einen Unterlassungsanspruch. Ein Schaadensersatzanspruch ist hingegen (zur Zeit noch) nicht gegeben, da das in der zögerlichen Umsetzung liegende Fehlverhalten nicht als schwerwiegend genug zu bewerten ist.

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Tenor:


  1.  Die Beklagte wird verurteilt, es ab dem 01.03.2022 zu unterlassen, die klagende Person bei der Anbahnung, dem Abschluss und der Abwicklung eines Dienstleistungs- oder Beförderungsvertrags dadurch zu diskriminieren, dass

  a.  die klagende Person bei der Nutzung von Angeboten der Beklagten zwingend eine Anrede als Herr oder Frau angeben muss und nicht eine geschlechtsneutrale Anrede auswählen kann,

  b.  die klagende Person bei der Ausstellung von Fahrkarten, Schreiben des Kundenservice, Rechnungen sowie begleitender Werbung und in der Verwaltung dafür gespeicherter personenbezogener Daten als Frau oder Herr bezeichnet wird.

  2.  Der Beklagten wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die in Ziffer 1. enthaltene Unterlassungsverpflichtung die Verhängung eines Ordnungsgeldes bis zu 250.000,- EUR, ersatzweise Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, oder Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, angedroht.

  3.  Die Beklagte wird verurteilt, an die klagende Person außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 413,64 EUR zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21.08.2020.

  4.  Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

  5.  Die Kosten des Rechtsstreits haben die Parteien jeweils zur Hälfte zu tragen.

  6.  Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für die klagende Person jedoch nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 100.000,- EUR. Der klagenden Person wird ferner nachgelassen, die Zwangsvollstreckung der Beklagten durch Leistung von Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leist

Tatbestand:


Die Parteien streiten um Ansprüche auf Entschädigung und Unterlassung.

Die klagende Person besitzt eine nicht-binäre Geschlechtsidentität, ist also weder männlich noch weiblich zugeordnet. Der Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde der klagenden Person wurde am 24.10.2019 dahin geändert, dass dort steht: "ohne Angabe".

Die klagende Person besitzt seit vielen Jahren eine BahnCard der Beklagten. Nach Änderung ihrer Geburtsurkunde bemühte sich die klagende Person am 26.10.2019 bei der Beklagten zunächst online und, nachdem dies scheiterte, telefonisch um Änderung ihrer für die BahnCard hinterlegten Daten mit dem Ziel, die dort hinterlegte unzutreffende geschlechtliche Anrede zu streichen und offenzulassen. Eine Änderung der diesbezüglichen Daten war und ist jedoch nicht möglich. Zudem ist es auch beim Online-Fahrkartenkauf als nicht registrierte*r Kund*in bei der Beklagten zwingend erforderlich, zwischen einer Anrede als Herr oder Frau auszuwählen, eine andere Anredeform ist nicht vorgesehen.

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 17.12.2019 machte die klagende Person außergerichtlich Unterlassungs- und Entschädigungsansprüche gegen die Beklagte geltend. Die spätere Klage wurde der Beklagten am 20.08.2020 zugestellt. Seit September oder Oktober 2020 ist die Beklagte dazu übergegangen, bei Verspätungsbenachrichtigungen betreffend Zugfahrten ihre Kund*innen mit der Anrede "Guten Tag [Vorname Zuname]" zu informieren. Sonstige Kommunikation in Textform zwischen der Beklagten und der klagenden Person im Zusammenhang mit der BahnCard oder dem Fahrkartenerwerb erfolgt jedoch weiterhin so, dass die klagende Person als "Frau ..." angesprochen wird.

Die Beklagte plant für die Zukunft eine Umstellung ihres Online-Vertriebssystems. Dabei soll auch eine weitere Anredeoption eingeführt werden. Die Umstellung wird die Beklagte rund 3 Mio. EUR kosten und eineinhalb bis zwei Jahre in Anspruch nehmen.

Die klagende Person ist der Ansicht, ihr stehe ein Anspruch auf Entschädigung und auf Unterlassung gegen die Beklagte zu. Das Verhalten der Beklagten ihr gegenüber sei eine weniger günstige Behandlung und damit eine Benachteiligung im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Die Diskriminierung sei auch erheblich und ziehe einen Entschädigungsanspruch nach sich.

Die klagende Person beantragt,

  1.  die Beklagte zu verurteilen, an sie wegen einer Diskriminierung eine Entschädigung in Geld zu zahlen, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, die jedoch den Betrag von 3.000,- EUR nicht unterschreitet, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.02.2020,

  2.  die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen, sie bei der Anbahnung, dem Abschluss und der Abwicklung eines Dienstleistungs- oder Beförderungsvertrags dadurch zu diskriminieren, dassa. die klagende Person bei der Nutzung von Angeboten der Beklagten zwingend eine Anrede als Herr oder Frau angeben muss und nicht eine geschlechtsneutrale Anrede auswählen kann,b. die klagende Person bei der Ausstellung von Fahrkarten, Schreiben des Kundenservice, Rechnungen sowie begleitender Werbung und in der Verwaltung dafür gespeicherter personenbezogener Daten als Frau oder Herr bezeichnet wird,und zur Erzwingung dieser Verpflichtungen ein angemessenes Ordnungsgeld bis zu 250.000,- EUR und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, ersatzweise Ordnungshaft oder aber Ordnungshaft von bis zu 6 Monaten anzudrohen.

  3.  hilfsweise für den Fall des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. und/oder dem Antrag zu 2. die Beklagte zu verurteilen, an sie einen weiteren Betrag von 961,16 EUR zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 13.05.2020.

Die Beklagte beantragt,

   die Klage abzuweisen.

Die Beklagte meint, eine Benachteiligung liege nicht vor. Die klagende Person könne die Leistungen der Beklagten uneingeschränkt in Anspruch nehmen; die geschlechtliche Identität der reisenden Personen spiele keine Rolle. Den Fahrkartenerwerb könne die klagende Person auch am Schalter oder Fahrkartenautomaten vornehmen und so die Angabe einer Anredeform vermeiden. Im sonstigen Kundenkontakt sei die Ansprache als Herr oder Frau üblich und werde auch von anderen Konzernen so gehandhabt; sie diene den gesellschaftlichen Gepflogenheiten der Höflichkeit. Die Beklagte ist der Ansicht, der Antrag zu 2.a. sei zu weit gefasst und unterliege daher Zulässigkeitsbedenken, denn es sei unklar, mit welcher geschlechtsneutralen Anrede einem entsprechenden Urteil genügt würde.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen und das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.




Entscheidungsgründe:


A.

Die Klage ist zulässig.

Der Unterlassungsantrag zu 2.a. unterliegt in der gestellten Form keinen Zulässigkeitsbedenken. Sofern die Beklagte den Antrag im letzten Teilsatz für zu weit, daher unbestimmt und infolge dessen für unzulässig hält, ist dem nicht zu folgen. Eine Klage muss einen bestimmten Antrag enthalten (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO), wobei ein Antrag dann hinreichend bestimmt ist, wenn er den Anspruch so konkret bezeichnet, dass der Rahmen der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis klar abgegrenzt ist, Inhalt und Umfang der materiellen Rechtskraft der Entscheidung erkennbar sind, das Risiko des Unterliegens des Klägers nicht durch Ungenauigkeit auf den Beklagten abgewälzt wird und eine etwaige Zwangsvollstreckung nicht mit einer Fortsetzung des Streits im Vollstreckungsverfahren belastet wird (Zöller-Greger, ZPO-Komm., 33. Aufl., § 253, Rn. 13 m.w.N.). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Zwar lässt der Antrag nicht erkennen, welche konkrete Anredeform außer Herr und Frau die klagende Person sich wünscht. Dies kann und muss jedoch auch der Beklagten überlassen werden. Die klagende Person macht jedenfalls mit ihrem Antrag - und zwar gerade mit dem letzten Teilsatz des Antrags zu 2.a. - deutlich, dass es ihr um die Einräumung der Wahl einer geschlechtsneutralen Anrede geht. Dies umfasst den hier vorliegenden Streit in seinem Kerngehalt und macht ihn damit hinreichend bestimmt.

B.

Die Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet und im Übrigen als unbegründet abzuweisen.

I.

Die klagende Person hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Unterlassung (§§ 21 Abs. 1 S. 2 iVm §§ 19, 3 und 1 AGG).

1. Die zwingende Auswahl einer Anrede als Herr oder Frau im Zusammenhang mit der BahnCard oder beim Online-Ticketkauf stellt eine Benachteiligung im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes dar (§ 3 Abs. 1 iVm § 1 AGG).

Die Benachteiligung der klagenden Person ist vorliegend darin begründet, dass die Beklagte die geschlechtliche Identität derjenigen Kund*innen achtet, die dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet sind, indem diese die Anrede als Herr oder Frau auswählen können, diese Achtung aber nicht der klagenden Person entgegenbringt, die keinem dieser beiden Geschlechter zugeordnet ist. Die klagende Person ist vielmehr gezwungen, in der Kommunikation sowohl im Zusammenhang mit der BahnCard als auch beim Online-Ticketkauf ihre eigene geschlechtliche Identität zu leugnen. Damit ist eine Ungleichbehandlung im Zusammenhang mit dem Geschlecht gegeben (§ 1 AGG).

Dies stellt eine Benachteiligung im Sinne des § 3 Abs. 1 AGG dar. Für eine Benachteiligung in diesem Sinne muss eine weniger günstige Behandlung einer Person vorliegen. Dabei muss die weniger günstige Behandlung sich weder auf Hauptleistungspflichten eines Vertrages beziehen noch materieller Natur sein. Entscheidend ist lediglich, ob eine Person irgendwelche Nachteile erleidet oder erlitten hat, gleich, ob sie materieller oder immaterieller Natur sind (BeckOGK-Mörsdorf, § 3 AGG, Rn. 27). Da die geschlechtliche Identität ein Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist, ist die hier erzwungene Leugnung des eigenen Geschlechts als ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht und damit als Benachteiligung anzusehen. Damit verstößt die Beklagte gegen das zivilrechtliche Benachteiligungsverbot im Massengeschäft (§ 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG).

Gemäß § 21 Abs. 1 Satz 2 AGG kann die klagende Person Unterlassung von der Beklagten verlangen, da auch eine Wiederholungsgefahr besteht.




2. Der Beklagten ist jedoch eine Frist einzuräumen, um den Eingriff zu beenden. Die klagende Person unterliegt mithin insoweit, als der Antrag in der gestellten Form eine sofortige Vollstreckung ermöglichen würde.

Ein Beseitigungsanspruch ist in besonderer Weise durch die Gedanken von Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit beeinflusst (BeckOK-Fritzsche, § 1004 BGB, Rn. 71). Soweit die Unterlassung vorherige Maßnahmen des Störers erfordert, ist ihm dazu eine Frist zu gewähren (BeckOK a.a.O. Rn. 104; BayObLg ZMR 2001, Seite 987 ff). Die Kammer hält diese Meinung, die in Literatur und Rechtsprechung auf den Unterlassungsanspruch nach § 1004 BGB angewendet wird, für auf den Unterlassungsanspruch nach dem AGG ohne weiteres übertragbar, da die Interessenlage dieselbe ist.

Die Kammer hält vorliegend eine Frist von rund einem halben Jahr, hier also zum 01.03.2022, für angemessen. Zwar hat die Beklagte mitgeteilt, dass die Umstellung ihrer Software eine Zeit von rund eineinhalb bis zwei Jahren in Anspruch nehmen würde. Die Kammer hält jedoch eine Frist von eineinhalb bis zwei Jahren für zu lange, um der klagenden Person effektiven Rechtschutz zu gewähren. Die Kammer hält es für tatsächlich durchführbar und auch für zumutbar, dass die Beklagte für die Zeit, in der ihre bereits vorhandene Software noch weiterläuft, die Kommunikation mit der klagenden Person beispielsweise individuell betreut und ihr dabei eine angemessene Anrede gewährt und/oder eine vorläufige teilweise Umstellung ihrer Software vornimmt, was innerhalb von rund sechs Monaten umsetzbar sein dürfte.



II. Der Antrag zu 1. auf Zahlung einer Geldentschädigung ist abzuweisen, da er unbegründet ist.

Der klagenden Person steht gegen die Beklagte kein Entschädigungsanspruch zu. Ein solcher könnte sich grundsätzlich aus § 21 Abs. 2 Satz 3 AGG ergeben. Nach § 21 Abs. 2 Satz 1 AGG ist der Benachteiligende verpflichtet, dem Verletzten den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen. Wegen eines Schadens der nicht Vermögensschaden ist, soll der Benachteiligte gemäß § 21 Abs. 2 Satz 3 AGG eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen können.

Der maßgebliche Zweck für den Geldentschädigungsanspruch liegt in der Genugtuung für die benachteiligte Person (Münchener Kommentar zum BGB-Thüsing, § 21 AGG, Rn. 55). Der Entschädigungsanspruch besteht dann, wenn eine schwerwiegende Verletzung vorliegt, die nicht auf andere Weise befriedigend ausgeglichen werden kann. Ob eine schwerwiegende Verletzung im Einzelfall vorliegt, muss anhand der Bedeutung und Tragweite der Benachteiligung, der Beweggründe des Benachteiligenden und des Grads des Verschuldens beurteilt werden (Münchener Kommentar-Thüsing, a.a.O., Rn. 55).

Vorliegend führt die Abwägung dazu, dass die klagende Person keine Geldentschädigung von der Beklagten verlangen kann.

Die klagende Person hat sowohl in ihrer schriftsätzlich zitierten Stellungnahme als auch im Rahmen ihrer informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung eindrucksvoll dargelegt, dass die erzwungene Auswahl der Anrede als Herr oder Frau und die daraus folgende falsche Anrede in der Kommunikation im Zusammenhang mit der BahnCard einen nicht unerheblichen Leidensdruck bei ihr verursacht. Die klagende Person hat sich auf einer schwierigen Identitätssuche befunden. Durch die Feststellung, dass sie eine non-binäre Geschlechtsidentität besitzt, welche sodann auch in ihrer Geburtsurkunde vermerkt wurde, konnte sie eine ihr entsprechende Identität finden. Indem die Beklagte die klagende Person dazu zwingt, sich im Kundenkontakt zwischen der Anrede Herr und Frau zu entscheiden, ignoriert sie deren persönlich empfundene sowie personenstandsrechtlich anerkannte Identität. Auf der subjektiven Seite der klagenden Person liegt mithin ein nicht unerheblicher Eingriff vor.

Auf der anderen Seite sind aber wie oben bereits dargestellt auch die Beweggründe und das Vorliegen sowie die Intensität eines Verschuldens der Beklagten zu berücksichtigen. Dies gilt für die Frage der Intensität des Eingriffs unabhängig von der Frage, ob - was umstritten ist - der Entschädigungsanspruch nach § 21 Abs. 2 S. 3 AGG grundsätzlich eines Verschuldens bedarf oder nicht (§ 21 Abs. 2 S. 2 AGG). Nach Auffassung der Kammer bedarf es der Berücksichtigung dieser Umstände jedenfalls zwingend bei der Beurteilung der Frage nach der Intensität eines Eingriffs, da die Frage, ob ein Eingriff einen Entschädigungsanspruch nach sich zieht, nicht allein vom subjektiven Empfinden des Verletzten abhängen darf, sondern einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände bedarf.

Bei Berücksichtigung von Beweggründen und Verschulden der Beklagten ist festzustellen, dass die Beklagte jedenfalls im Jahr 2019, als die hier in Rede stehende Unmöglichkeit der Änderung der BahnCard-Daten in Bezug auf das Geschlecht stattfand, in ihrer Software die Anreden zur Verfügung gestellt hatte, die sich in der deutschen Sprache historisch entwickelt hatten und die auch 2019 noch als allgemeingültig galten. Eine breitere gesellschaftliche Sensibilisierung für die nicht-binär-geschlechtliche Minderheit und das Bestreben, Benachteiligungen zu verhindern, ist erst in den letzten Jahren, insbesondere im Jahr 2020, erfolgt. So ist etwa festzustellen, dass sich in den öffentlich-rechtlichen Medien eine gendergerechte Sprache erst im vergangenen Jahr etabliert hat und auch viele Printmedien seit rund einem Jahr eine gendergerechte Sprache nutzen, wobei jeweils nicht nur eine männliche und weibliche Form, sondern durch die "Genderpause" im Sprachfluss bzw. durch Wahl entweder des Asterisken oder eines Doppelpunkts in Texten auch eine geschlechtsneutrale Form erfasst wird.

Es ist in keiner Weise ersichtlich, dass die Beklagte bei Einrichtung ihrer Software in Bezug auf die BahnCard oder den Online-Ticketerwerb bewusst oder gar absichtlich zur Schädigung nicht-binärer Personen eine geschlechtsneutrale Anrede weggelassen hätte. Vielmehr stand ihr eine geschlechtsneutrale und im Kundenverkehr üblicherweise verwendete Anrede zu dieser Zeit nach dem allgemeinen gesellschaftlich üblichen Vokabular nicht zur Verfügung.

Wie aus der Klageerwiderung deutlich wird, wendet die Beklagte sich auch nicht grundsätzlich dagegen, eine geschlechtsneutrale Anrede einzuführen und künftig zu verwenden. Sie plant dies für die Zukunft ohnehin. Sie wünscht hierzu aber einen zeitlich nicht unerheblichen Aufschub, den die Kammer allerdings in dem begehrten Umfang für zu weitgehend hält. Die Beklagte hat jedoch auch durch Veränderung der Verspätungsnachrichten im September oder Oktober 2020, also bald nach Zustellung der Klage, gezeigt, dass sie das Anliegen der klagenden Person nicht völlig ungehört lässt und sich nicht generell gegen eine geschlechtsneutrale Anrede sträubt.

Der Umstand, dass es sich bei der gesellschaftlichen Anerkennung der gendergerechten Sprache um eine relativ neue Entwicklung handelt und das Fehlverhalten der Beklagten in der zögerlichen Umsetzung liegt, lässt Beweggründe und Verschulden der Beklagten als gering erscheinen.

Insgesamt ist nach Berücksichtigung der Betroffenheit der klagenden Person einerseits und Beweggründen und Verschulden der Beklagten andererseits der Eingriff damit als nicht so schwerwiegend zu bewerten, dass hier eine Geldentschädigung auszusprechen wäre.



III.

Der Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten folgt aus § 21 Abs. 2 S. 1 AGG. Danach hat der Schädiger den Schaden zu ersetzen, der aus der Verletzung des Benachteiligungsverbots entsteht. Dies umfasst im Falle der berechtigten Inanspruchnahme, die hier aufgrund der Komplexität der Sache gegeben ist, auch außergerichtliche Rechtsanwaltskosten. Der diesbezügliche Zinsanspruch besteht seit Rechtshängigkeit in gesetzlicher Höhe (§§ 291, 288 BGB). Gründe für einen früheren Zinsbeginn sind nicht ersichtlich, so dass der weitergehende Zinsanspruch zurückzuweisen war.

IV.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO. Dass dem Unterlassungsanspruch nicht ab sofort stattgegeben werden kann, stellt ein Teilunterliegen der klagenden Person dar, das mit 1/5 des Werts des Unterlassungsanspruchs bewertet wird. Zusammen mit dem Teilunterliegen in Bezug auf den Entschädigungsanspruch unterliegt die klagende Person damit insgesamt hälftig.

V.

Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1 ZPO. Die Kammer hält eine von der klagenden Person vor der Vollstreckung zu erbringende Sicherheitsleistung von 100.000,- EUR für erforderlich. Die Sicherheitsleistung ist so zu bemessen, dass der Schuldner vor Schaden aus der Vollstreckung eines später abgeänderten Urteils geschützt ist (Zöller-Herget, ZPO-Kommentar, 33. Auflage, § 709, Rn. 3). Nach Einschätzung der Kammer dürfte sich bis zur ohnehin von der Beklagten geplanten Umstellung die vorläufige Umsetzung einer gendergerechten Sprache im Kundenverkehr mit der klagenden Person beispielsweise durch eine vorläufige teilweise Umstellung der Software sowie durch den Einsatz von Personal zur individuellen Bearbeitung von Schreiben an die klagende Person auf diesen Betrag belaufen. Bei der Bemessung des Betrags hat die Kammer berücksichtigt, dass die Beklagte Kosten von 3 Mio. Euro für die Softwareumstellung vorgetragen hat, dass es hier aber letztlich um vorläufige Maßnahmen bis zur geplanten Softwareumstellung geht, die mit deutlich weniger Kosten realisierbar sein dürften.

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