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EuGH Urteil vom 06.10.2011 - C-421/10 - Bestimmung des steuerlichen Anknüpfungspunkts

EuGH v. 06.10.2011: Bestimmung des steuerlichen Anknüpfungspunkts


Der EuGH (Urteil vom 06.10.2011 - C-421/10) hat entschieden:

   Art. 21 Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der betreffende Steuerpflichtige bereits dann ein „im Ausland ansässiger Steuerpflichtiger“ ist, wenn er den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit im Ausland hat.




Siehe auch
Scheinsitz - Scheinwohnsitz - Briefkastenfirma - oder Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung?
und
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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

6. Oktober 2011(*)

„Mehrwertsteuer – Sechste Richtlinie – Art. 21 Abs. 1 Buchst. b – Bestimmung des steuerlichen Anknüpfungspunkts – Leistungen eines Dienstleisters, der in demselben Mitgliedstaat wohnt wie der Dienstleistungsempfänger, den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit jedoch in einem anderen Mitgliedstaat hat – Begriff des im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen“

In der Rechtssache C-421/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 30. Juni 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 25. August 2010, in dem Verfahren

Finanzamt Deggendorf

gegen

Markus Stoppelkamp als Insolvenzverwalter über das Vermögen des Harald Raab

erlässt DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-J. Kasel (Berichterstatter) sowie der Richter E. Levits und M. Safjan,

Generalanwalt: J. Mazák,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der deutschen Regierung, vertreten durch C. Blaschke und T. Henze als Bevollmächtigte,

– der griechischen Regierung, vertreten durch F. Dedousi, I. Pouli und I. Bakopoulos als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Mölls und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 21 Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 (ABl. L 269, S. 44) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Stoppelkamp als Insolvenzverwalter über das Vermögen des Harald Raab und dem Finanzamt Deggendorf (im Folgenden: Finanzamt) über die Bestimmung des Schuldners der Mehrwertsteuer auf die von Herrn Raab erbrachten Dienstleistungen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht 3 Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie bestimmt:

„Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.“ 4 Art. 9 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie bestimmt:
   „Als Ort einer Dienstleistung gilt der Ort, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort.

“ 5 In Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Sechsten Richtlinie heißt es:

   „Es gilt jedoch

...

e) als Ort der folgenden Dienstleistungen, die an außerhalb der Gemeinschaft ansässige Empfänger oder an innerhalb der Gemeinschaft, jedoch außerhalb des Landes des Dienstleistenden ansässige Steuerpflichtige erbracht werden, der Ort, an dem der Empfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, für welche die Dienstleistung erbracht worden ist, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort:

...

– Gestellung von Personal,

...“

6 Art. 21 der Sechsten Richtlinie lautet:

   „(1) Im inneren Anwendungsbereich schuldet die Mehrwertsteuer:

a) der Steuerpflichtige, der eine steuerpflichtige Lieferung von Gegenständen durchführt bzw. eine steuerpflichtige Dienstleistung erbringt, mit Ausnahme der unter den Buchstaben b) und c) genannten Fälle.

Wird die steuerpflichtige Lieferung von Gegenständen bzw. die steuerpflichtige Dienstleistung von einem nicht im Inland ansässigen Steuerpflichtigen bewirkt bzw. erbracht, so können die Mitgliedstaaten gemäß den von ihnen festgelegten Bedingungen vorsehen, dass der Empfänger der steuerpflichtigen Lieferung von Gegenständen bzw. der steuerpflichtigen Dienstleistung die Steuer schuldet;

b) der steuerpflichtige Empfänger einer in Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e) genannten Dienstleistung oder der Empfänger einer in Artikel 28b Teile C, D, E und F genannten Dienstleistung, der im Inland für Zwecke der Mehrwertsteuer erfasst ist, wenn die Dienstleistung von einem im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen erbracht wird;

...“

7 Art. 1 der Achten Richtlinie 79/1072/EWG des Rates vom 6. Dezember 1979 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Inland ansässige Steuerpflichtige (ABl. L 331, S. 11, im Folgenden: Achte Richtlinie) sieht vor:

   „Für die Anwendung dieser Richtlinie gilt als nicht im Inland ansässiger Steuerpflichtiger derjenige Steuerpflichtige nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 77/388/EWG, der in dem Zeitraum nach Artikel 7 Absatz 1 erster Unterabsatz Sätze 1 und 2 in diesem Land weder den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit noch eine feste Niederlassung, von wo aus die Umsätze bewirkt worden sind, noch – in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer festen Niederlassung – seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort gehabt hat und der in dem gleichen Zeitraum im Inland keine Gegenstände geliefert oder Dienstleistungen erbracht hat mit Ausnahme von:

a) Beförderungsumsätzen und den damit verbundenen Nebentätigkeiten, die gemäß Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe i), Artikel 15 oder Artikel 16 Absatz 1 Teile B, C und D der Richtlinie 77/388/EWG steuerfrei sind, oder

b) Dienstleistungen, bei denen die Steuer gemäß Artikel 21 Nummer 1 Buchstabe b) der Richtlinie 77/388/EWG lediglich vom Empfänger geschuldet wird.“





Nationales Recht

8 § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes 1999 (BGBl. 1999 I S. 1270) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: UStG) sieht vor, dass „die Lieferungen und sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt“, der Umsatzsteuer unterliegen.

9 § 3a UStG bestimmt:

   „(1) Eine sonstige Leistung wird vorbehaltlich der §§ 3b und 3f an dem Ort ausgeführt, von dem aus der Unternehmer sein Unternehmen betreibt. Wird die sonstige Leistung von einer Betriebsstätte ausgeführt, so gilt die Betriebsstätte als der Ort der sonstigen Leistung.

...

(3) Ist der Empfänger einer der in Absatz 4 bezeichneten sonstigen Leistungen ein Unternehmer, so wird die sonstige Leistung abweichend von Absatz 1 dort ausgeführt, wo der Empfänger sein Unternehmen betreibt. Wird die sonstige Leistung an die Betriebsstätte eines Unternehmers ausgeführt, so ist stattdessen der Ort der Betriebsstätte maßgebend. Ist der Empfänger einer der in Absatz 4 bezeichneten sonstigen Leistungen kein Unternehmer und hat er seinen Wohnsitz oder Sitz im Drittlandsgebiet, wird die sonstige Leistung an seinem Wohnsitz oder Sitz ausgeführt. ...

(4) Sonstige Leistungen im Sinne des Absatzes 3 sind:

...

7. die Gestellung von Personal;

...“

10 § 13b Abs. 4 UStG bestimmt:

   „Ein im Ausland ansässiger Unternehmer ist ein Unternehmer, der weder im Inland noch auf der Insel Helgoland oder in einem der in § 1 Abs. 3 bezeichneten Gebiete einen Wohnsitz, seinen Sitz, seine Geschäftsleitung oder eine Zweigniederlassung hat. Maßgebend ist der Zeitpunkt, in dem die Gegenleistung erbracht wird. Ist es zweifelhaft, ob der Unternehmer diese Voraussetzungen erfüllt, schuldet der Leistungsempfänger die Steuer nur dann nicht, wenn ihm der Unternehmer durch eine Bescheinigung des nach den abgabenrechtlichen Vorschriften für die Besteuerung seiner Umsätze zuständigen Finanzamts nachweist, dass er kein Unternehmer im Sinne des Satzes 1 ist.“


Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

11 Herr Raab verlegte den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit im Jahr 2002 von Deutschland nach Österreich. So meldete er an zwei Standorten in Österreich ein Gewerbe mit der Bezeichnung „Überstellungs-, Administrations- und Fahrdienst“ an. Seine wirtschaftliche Tätigkeit bestand in der Überlassung eigener Arbeitnehmer an Unternehmen mit Sitz im Raum Niederbayern für Fahrtätigkeiten in Deutschland.

12 Am 1. Juli 2002 meldete Herr Raab auch seinen privaten Wohnsitz nach Österreich um. Nach den Feststellungen der zuständigen Zollbehörden hielt er sich jedoch auch nach seiner Abmeldung noch häufig in Deutschland auf.

13 Die österreichische Steuerverwaltung erteilte Herrn Raab eine Umsatzsteuer-Identifikationsnummer. Dieser rechnete seine Leistungen gegenüber den deutschen Speditionsbetrieben netto mit dem Zusatz „Steuerschuldnerschaft nach § 13b UStG beim Leistungsempfänger“ ab.

14 Das Finanzamt vertrat die Ansicht, dass die Voraussetzungen für eine Verlagerung der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger gemäß § 13b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 in Verbindung mit Abs. 4 UStG nicht vorgelegen hätten. Herr Raab sei kein im Ausland ansässiger Steuerpflichtiger, da er seinen privaten Wohnsitz im fraglichen Jahr im Inland gehabt habe. Das Finanzamt erließ daher gegenüber Herrn Raab einen Mehrwertsteuerbescheid.

15 Dagegen erhob Herr Raab Klage. Das Gericht des ersten Rechtszugs gab der Klage mit der Begründung statt, dass sich der Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit von Herrn Raab im Jahr 2002 in Österreich befunden habe. § 13b UStG sei unter Berücksichtigung von Art. 21 Abs. 1 Buchst. a Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, dass es für die Ansässigkeit des Steuerpflichtigen im Ausland allein auf den Unternehmenssitz ankomme. Wenn wie im vorliegenden Fall ein solcher vorhanden sei, sei ein daneben im Inland bestehender privater Wohnsitz ohne Bedeutung.

16 Zur Begründung seiner beim Bundesfinanzhof eingelegten Revision machte das Finanzamt einen Verstoß des Gerichts gegen § 13b Abs. 4 UStG geltend, aus dem eindeutig hervorgehe, dass ein Unternehmer nicht als im Ausland ansässig gelten könne, wenn er seinen Wohnsitz im Inland habe.




17 Der Bundesfinanzhof äußert Zweifel an der Vereinbarkeit der deutschen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht, da nach diesen das als Voraussetzung für die Verlagerung der Steuerschuld vorgesehene Kriterium des „im Ausland ansässigen Unternehmers“ dann nicht erfüllt sei, wenn der Unternehmer zwar den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit im Ausland, jedoch einen privaten Wohnsitz im Inland habe. Nach Art. 21 Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie werde die Mehrwertsteuer vom steuerpflichtigen Leistungsempfänger bereits dann geschuldet, wenn die Dienstleistung von einem „im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen“ erbracht werde. Dieser Begriff werde aber weder in Art. 21 noch in einer anderen Bestimmung der Sechsten Richtlinie definiert.

18 Unter diesen Umständen hat der Bundesfinanzhof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

   Ist ein Steuerpflichtiger bereits dann ein „im Ausland ansässiger Steuerpflichtiger“ im Sinne des Art. 21 Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie, wenn er den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit im Ausland hat, oder muss als weitere Voraussetzung hinzukommen, dass er seinen privaten Wohnsitz nicht im Inland hat?





Zur Vorlagefrage

19 Zunächst ist festzustellen, dass ein Vergleich der deutschen Fassung des Art. 21 Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie u. a. mit der französischen Fassung dieser Bestimmung zeigt, dass die deutsche Fassung nicht die Formulierung „nicht im Inland ansässiger Steuerpflichtiger“ („assujetti non établi à l’intérieur du pays“), sondern die Formulierung „im Ausland ansässiger Steuerpflichtiger“ verwendet, die wörtlich ins Französische übersetzt „assujetti établi à l’étranger“ lautet.

20 Somit ist die Vorlagefrage dahin zu verstehen, dass mit ihr im Wesentlichen geklärt werden soll, ob Art. 21 Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass der Steuerpflichtige bereits dann ein „im Ausland ansässiger Steuerpflichtiger“ (nicht im Inland ansässiger Steuerpflichtiger) im Sinne der deutschen Fassung dieser Bestimmung ist, wenn er den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit im Ausland hat, oder als weitere Voraussetzung hinzukommen muss, dass er seinen privaten Wohnsitz nicht im Inland hat.

21 Die deutsche Fassung der Sechsten Richtlinie enthält, wie das vorlegende Gericht bemerkt, keine Definition des Begriffs „im Ausland ansässiger Steuerpflichtiger“.

22 Vor den mit der Richtlinie 2000/65 vorgenommenen Änderungen war dieser Begriff allerdings nicht nur in der deutschen, sondern u. a. auch in der spanischen, der dänischen, der englischen, der französischen, der italienischen, der niederländischen, der portugiesischen und der schwedischen Fassung des Art. 21 Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie enthalten. Seit dem Inkrafttreten dieser Änderungsrichtlinie verwenden jedoch alle diese Sprachfassungen im Gegensatz zur deutschen Fassung eine Formulierung, die derjenigen des „nicht im Inland ansässigen Steuerpflichtigen“ entspricht.

23 Dieser Begriff ist im Gegensatz zu dem in der deutschen Fassung der Sechsten Richtlinie verwendeten nicht nur in anderen Bestimmungen dieser Richtlinie, insbesondere in Art. 17 Abs. 4, enthalten, sondern überdies in einer anderen Bestimmung des Unionsrechts definiert.

24 Der Begriff „nicht im Inland ansässiger Steuerpflichtiger“ wird nämlich in Art. 1 der Achten Richtlinie erläutert (vgl. Urteil vom 16. Juli 2009, Kommission/Italien, C-244/08, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 26).

25 Im Sinne dieses Artikels setzt die Eigenschaft als nicht im Inland ansässiger Steuerpflichtiger voraus, dass beim Steuerpflichtigen im Bezugszeitraum keiner der in dieser Bestimmung genannten inländischen Anknüpfungstatbestände erfüllt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Italien, Randnr. 27).

26 Zu diesen Anknüpfungstatbeständen zählen in erster Linie der Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit und das Vorhandensein einer festen Niederlassung, von wo aus die Umsätze bewirkt worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Italien, Randnr. 28).

27 Nach Art. 1 der Achten Richtlinie können die übrigen dort aufgezählten Anknüpfungstatbestände, nämlich der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des Steuerpflichtigen, nur dann für die Bestimmung des Ortes, an dem dieser als „ansässig“ gilt, angesehen werden, wenn einschlägige Angaben zum Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit oder zur festen Niederlassung, von wo aus die Umsätze bewirkt worden sind, fehlen.

28 Daraus folgt, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, die zum einen dadurch gekennzeichnet ist, dass der Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit des Steuerpflichtigen bekannt ist und sich außerhalb des Landes des Leistungsempfängers befindet, und zum anderen dadurch, dass es sich unstreitig um einen tatsächlichen, realen Sitz und nicht um einen fiktiven Sitz oder Standort handelt, ein etwaiger privater Wohnsitz des Steuerpflichtigen innerhalb dieses Landes keine Berücksichtigung finden kann.

29 Diese Schlussfolgerung entspricht im Übrigen der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Bestimmung des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit einer Gesellschaft im Mehrwertsteuerrecht, wie sie sich insbesondere aus dem Urteil vom 28. Juni 2007, Planzer Luxembourg (C-73/06, Slg. 2007, I-5655), zur Auslegung von Art. 1 der Dreizehnten Richtlinie 86/560/EWG des Rates vom 17. November 1986 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Verfahren der Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Gebiet der Gemeinschaft ansässige Steuerpflichtige (ABl. L 326, S. 40) ergibt.

30 Wie der Gerichtshof in Randnr. 61 dieses Urteils befunden hat, ist nämlich bei der Bestimmung des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit einer Gesellschaft eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, und zwar in erster Linie der satzungsmäßige Sitz, der Ort der zentralen Verwaltung, der Ort, an dem die Führungskräfte der Gesellschaft zusammentreffen, und der – gewöhnlich mit diesem übereinstimmende – Ort, an dem die allgemeine Unternehmenspolitik der Gesellschaft bestimmt wird.

31 Andere Elemente, wie der Wohnsitz der Hauptführungskräfte und der Ort, an dem die Gesellschafterversammlung zusammentritt, können in zweiter Linie in Betracht gezogen werden, wenn es z. B. darum geht, bei einer Gesellschaft mit fiktivem Standort, wie er etwa eine „Briefkastenfirma“ kennzeichnet, den tatsächlichen Sitz zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil Planzer, Randnrn. 61 und 62).

32 Die Auslegung, wonach der private Wohnsitz des steuerpflichtigen Dienstleistungserbringers bei der Bestimmung des Ortes seiner Niederlassung nur in Betracht gezogen werden kann, wenn keine mit der von ihm ausgeübten wirtschaftlichen Tätigkeit unmittelbar zusammenhängenden Anknüpfungspunkte – wie etwa der Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit oder das Vorhandensein einer festen Niederlassung, von wo aus die Umsätze bewirkt worden sind – bestehen, entspricht zudem der Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie zugrunde liegenden Systematik, da diese Bestimmung den Steuerpflichtigen nur in Bezug auf die von ihm ausgeübte wirtschaftliche Tätigkeit erfasst.

33 Hinzuzufügen ist, dass Art. 21 Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie bezweckt, den in einem Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen vom Zwang zu befreien, die Verpflichtungen aus Art. 22 dieser Richtlinie in anderen Mitgliedstaaten, in denen er Dienstleistungen erbringt oder Gegenstände liefert, zu erfüllen. Durch einen Ausschluss der Verlagerung der Steuerschuld in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen würde aber die Verwirklichung dieses Zwecks ernsthaft in Frage gestellt.



34 Die vorstehende Auslegung ist überdies, wie das vorlegende Gericht hervorgehoben hat, diejenige, die die größte Rechtssicherheit bietet, da die Annahme, dass die Dienstleistungen dann von „einem im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen“ erbracht werden, wenn der Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit im Ausland liegt, ohne dass es darauf ankommt, wo sein privater Wohnsitz gelegen ist, geeignet ist, die Anwendung der Bestimmungen der Sechsten Richtlinie zu vereinfachen, und damit dazu beiträgt, dass eine genaue und korrekte Erhebung der Mehrwertsteuer gewährleistet wird.

35 Diese Annahme erspart es nämlich dem inländischen Leistungsempfänger, der davon Kenntnis hat, dass der Leistungserbringer den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit, wie im vorliegenden Fall, nicht im Inland hat, Nachforschungen über dessen privaten Wohnsitz anzustellen.

36 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 21 Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass der Steuerpflichtige bereits dann ein „im Ausland ansässiger Steuerpflichtiger“ ist, wenn er den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit im Ausland hat.

Kosten

37 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

   Art. 21 Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der betreffende Steuerpflichtige bereits dann ein „im Ausland ansässiger Steuerpflichtiger“ ist, wenn er den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit im Ausland hat.

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