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Finanzgericht Düsseldorf Beschluss vom 23.03.2011 - 1 V 1733/11 A(U) - Kein Unternehmenssitz an einer lediglich die postialische Erreichbarkeit sicherstellenden Anschrift

FG Düsseldorf v. 23.03.2011: Kein Unternehmenssitz an einer lediglich die postialische Erreichbarkeit sicherstellenden Anschrift


Das Finanzgericht Düsseldorf (Beschluss vom 23.03.2011 - 1 V 1733/11 A(U)) hat entschieden:

  1.  Wird die Versagung des Vorsteuerabzugs auf die Kenntnis bzw. das Wissenmüssen vom auf eine Umsatzsteuerhinterziehung angelegten Zweck der Lieferketten gestützt, ohne dass die Einbeziehung der Umsätze in eine Umsatzsteuerhinterziehung hinreichend sicher festgestellt wurde, ist die Rechtsmäßigkeit des Umsatzsteuerbescheids ernstlich zweifelhaft i.S. des § 69 FGO.

  2.  Aus dem Umstand, dass der statuarische Sitz von dem Ort abweichen kann, von dem aus eine GmbH tatsächlich betrieben wird, kann nicht gefolgert werden, dass die Angabe des statuarischen Sitzes immer den Anforderungen des § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG, der nicht die Angabe des "Sitzes", sondern der "Anschrift" erfordert, genügt (hier: Angabe eines virtuellen Büros bzw. einer fiktiven Ansiedlung).




Siehe auch
Impressum
und
Unternehmereigenschaft - Gewerbe


Tatbestand:


Die Antragstellerin wurde im Jahr 1996 gegründet. Gegenstand des Unternehmens ist der Im- und Export von sowie der Handel mit Waren aller Art, insbesondere elektronischen Produkten, Computern, Werkzeugen und Maschinen, sowie die Übernahme von Handelsvertretungen, die Vermittlung von Handelsgeschäften und die Beratung auf diesem Gebiet.

Anlässlich einer Umsatzsteuer-​Sonderprüfung, die die Voranmeldungszeiträume September 2009 bis Januar 2010 umfasste, traf die Prüferin folgende Feststellungen: 1. Ab September 2009 hatte die Antragstellerin ausweislich ihrer Ausgangsrechnungen steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen an verschiedene Unternehmen ausgeführt, zu denen sie vorher keine Geschäftsbeziehungen unterhalten hatte. Gegenstand dieser Lieferungen waren zum einen Prozessoren (im Folgenden: CPUs) und zum anderen Spielekonsolen. Für den Prüfungszeitraum ergaben sich insoweit folgende innergemeinschaftliche Lieferungen der Antragstellerin an folgende Unternehmen:

a) Belgien
Im Zeitraum vom 25.09. bis 30.09.2009 wurde mit 2 Rechnungen über steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen von CPUs abgerechnet.

b) Belgien
Mit Rechnung vom 20.10.2009 wurde über steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen von CPUs abgerechnet.

c) Italien
Mit Rechnung vom 20.10.2009 wurde über steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen von Spielekonsolen abgerechnet.

d) Italien
Im Zeitraum vom 06.10. bis 08.10.2009 wurde mit 2 Rechnungen über steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen von Spielekonsolen abgerechnet.

e) Irland
Im Zeitraum vom 07.10.2009 bis 29.01.2010 wurde mit 31 Rechnungen über steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen von CPUs abgerechnet.

f) Slowakei
Im Zeitraum vom 08.12.2009 bis 15.01.2010 wurde mit 11 Rechnungen steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen von CPUs abgerechnet.

g) Tschechien
Im Zeitraum vom 12.01. bis 19.01.2010 wurde mit 2 Rechnungen über steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen von CPUs abgerechnet.

h) England
Im Zeitraum vom 27.01. bis 29.01.2010 wurde mit 3 Rechnungen über steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen von CPUs abgerechnet.

i) Österreich
Mit Rechnung vom 19.11.2009 wurde über steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen von CPUs abgerechnet. Die CPUs und Spielekonsolen hatte die Antragstellerin ausweislich der vorgelegten Einkaufsrechnungen von folgenden Lieferanten bezogen:

a) S (Inland)
Im Zeitraum vom 25.09. bis 19.10.2009 hatte die Antragstellerin aus 10 Rechnungen dieser Firma einen Vorsteuerabzug geltend gemacht.

b) X (Inland)
Im Zeitraum vom 12.11.2009 bis 28.01.2010 hatte die Antragstellerin aus 56 Rechnungen dieser Firma einen Vorsteuerabzug geltend gemacht.

c) X
Im Zeitraum vom 01.12.2009 bis 05.01.2010 hatte die Antragstellerin aus 5 Rechnungen dieser Firma einen Vorsteuerabzug geltend gemacht.

d) M (Inland)
Aus einer Rechnung dieser Firma vom 30.09.2009 hatte die Antragstellerin einen Vorsteuerabzug geltend gemacht.

Zum Ablauf der vorstehend dargestellten Geschäfte machte der Geschäftsführer im Verlauf der Prüfung ausweislich des Prüfungsberichts vom 31.01.2011 folgende Angaben:

Die Teilnahme an den Geschäften sei ihm von Personen (im Folgenden: Koordinatoren) vorgeschlagen worden. Die Koordinatoren seien ihm aus früheren Geschäftsbeziehungen mit einer bekannt gewesen. Persönlich begegnet sei man sich jedoch nicht. Sämtliche an den vorgenannten Umsätzen beteiligte Firmen – Lieferanten und Abnehmer – seien der Antragstellerin durch die Koordinatoren vermittelt worden. Die gehandelten Waren und die jeweilige Warenmenge, der jeweilige An- und Verkaufspreis sowie das Lieferdatum und der den Warentransport ausführende Spediteur seien der Antragstellerin von den Koordinatoren detailliert vorgegeben worden.

Der Ablauf der Geschäfte sei wie folgt gewesen: Nach Eingang der Ordermail sei die Ware von der Antragstellerin bestellt und anschließend nicht an den Sitz der Antragstellerin, sondern in ein von einer Firma A betriebenes Lager in Bayern geliefert worden. Nach Mitteilung über den Wareneingang in Bayern habe die Antragstellerin den Lieferanten bezahlt und eine Pro-​Forma-​Rechnung an den Abnehmer ausgestellt. Nach Eingang der Zahlung des Abnehmers auf dem Konto der Antragstellerin habe sie die Ware in Bayern freigegeben und dem Abnehmer eine Rechnung über eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung erteilt. Die Kontrolle der Warenbewegungen sei ausschließlich anhand der der Antragstellerin übermittelten CMR-​Frachtpapiere erfolgt. Eine persönliche Inaugenscheinnahme der Ware sei nicht erfolgt. Sofern die Antragstellerin die erforderlichen Lieferpapiere nicht erhalten habe, habe sie nur die Nettorechnungsbeträge gezahlt. Die Kontakte zu den Lieferanten und Abnehmern seien der Antragstellerin ausschließlich per Mailverkehr vermittelt worden. Sämtliche Vertragspartner seien der Antragstellerin nicht persönlich bekannt. Die Vermittlungsleistungen der Koordinatoren seien durch Provisionsrechnungen abgerechnet worden. Diesen Provisionsabrechnungen lägen keine unterzeichneten Handelsvertreterverträge zugrunde, weil die vorliegenden Entwürfe aufgrund von Unstimmigkeiten über einzelne Vertragsformulierungen nicht unterzeichnet worden seien. Die Antragstellerin sei zur Vorfinanzierung der Waren in die bereits feststehende Lieferkette eingeschaltet worden. Die Antragstellerin habe die bestellte Ware erst bei Erhalt der Lieferscheine aus Schwaig gezahlt. Von ihren Kunden habe sie auf eine Pro-​Forma-​Rechnung hin bereits vor der Lieferung Zahlungen erhalten. Auf den ursprünglichen Vorschlag der Koordinatoren, die Antragstellerin nicht in den Zahlungsverkehr einzubinden, habe die Antragstellerin sich nicht eingelassen.

2. Zu den Lieferanten der Antragstellerin traf die Prüferin darüber hinaus folgende Feststellungen:

a) S
Nach Feststellungen der Steuerfahndung S sei die Firma als ein erster Buffer in ein Umsatzsteuerkarussell eingebunden gewesen. Zum Zeitpunkt der Rechnungslegung habe sie an der angegebenen Anschrift keinen Unternehmenssitz mehr gehabt. Das Umsatzsteuersignal sei zum 01.09.2009 gelöscht worden.

b) X
Nach den Feststellungen der Steuerfahndung X habe die Firma an der in den Rechnungen angegebenen Anschrift keinen Unternehmenssitz gehabt. Bei der Anschrift habe es sich um die Räume der Steuerkanzlei gehandelt. Sie habe dort weder eigene Geschäftsräume noch Mobiliar noch sonstiges Vermögen unterhalten. Der Geschäftsführer habe sich dort so gut wie nicht aufgehalten; es seien dort weder Arbeitgeberfunktionen ausgeübt noch Geschäfte abgeschlossen worden. Am 16.12.2009 habe die Kanzlei das Mandat für die Firma niedergelegt. Post sei danach als unzustellbar zurückgekommen.

c) X
Nach den Feststellungen der Steuerfahndung X habe die Firma an der in den Rechnungen angegebenen Anschrift nur ein „virtuelles Büro“ - Telefonanschluss und Postnachsendung - gehabt. Insoweit habe ein Büroservicevertrag bestanden. Es habe unter der Anschrift keine eigenen Geschäftsräume, kein Mobiliar und keine Geschäftsunterlagen gegeben. Es seien dort keine Tätigkeiten angeboten, keine Aufträge entgegen genommen, keine Ausführungen vorbereitet, keine Zahlungen geleistet und auch kein Personal beschäftigt worden. Der Geschäftsführer habe sich nach eigenen Angaben im Dezember 2009 nicht in X, sondern ausschließlich an seinem Wohnort in Großbritannien aufgehalten. Er arbeite in einem Lebensmittelgeschäft und spreche kein Deutsch.

3. Zu den von der Antragstellerin erklärten innergemeinschaftlichen Lieferungen stellte die Prüferin u. a. fest, dass Lieferungen ausweislich der vorgelegten Lieferscheine aus dem Lager an eine Firma in Österreich versandt worden waren. Die Firma betreibe dort ein reines Warenlager für Im- und Exporte von und nach Österreich. Anschließend seien die gelieferten Waren von den Abnehmern der Antragstellerin an verschiedene Unternehmen weiter veräußert und ausweislich der entsprechenden Lieferpapiere – jedenfalls zu einem wesentlichen Teil – wieder in das Lager Bayern transportiert worden. Wegen der weiteren Feststellungen zu den von der Antragstellerin erklärten innergemeinschaftlichen Lieferungen wird auf Tz. 6. des Umsatzsteuer-​Sonderprüfungsberichts vom 31.01.2011 Bezug genommen.

4. Aufgrund der vorgenannten Feststellungen gelangte die Prüferin zu der Auffassung, dass der Vorsteuerabzug aus diesen Rechnungen zu versagen sei, da die Antragstellerin die abgerechneten Lieferungen nicht für ihr Unternehmen bezogen habe. Die Antragstellerin habe faktisch keine Verfügungsmacht über die Waren erlangt und sei nur auf dem Papier in die Lieferkette eingeschaltet gewesen. Tatsächlich habe sie nicht über die für einen leistenden Unternehmer üblichen Entscheidungsmöglichkeiten verfügt, da alle wesentlichen Aspekte der Liefergeschäfte (An- und Verkaufspreis, Liefergegenstand und –menge, Lieferant und Abnehmer, beteiligte Spedition, Lieferort) durch Dritte vorgegeben gewesen seien.

Ein Vorsteuerabzug aus den genannten Rechnungen scheitere auch daran, dass es sich um betrügerische Umsatzketten im Rahmen eines Umsatzsteuerkarussells gehandelt habe und der Geschäftsführer der Antragstellerin zumindest hätte wissen können, dass die Antragstellerin sich mit dem Erwerb der Ware an einem Umsatz beteiligt habe, der in einen Umsatzsteuerbetrug einbezogen gewesen sei.

Bei den vorliegenden Umsatzgeschäften habe der Einkauf der Ware bei einem Produzenten nicht ermittelt werden können. Die Weiterlieferung sei immer an Firmen erfolgt, die selbst auch als Lieferanten dieser CPUs aufgetreten seien. Lieferungen an einen „Endverbraucher“ seien nicht feststellbar. Es sei auch wirtschaftlich in keiner Weise zu erklären, dass Ware zunächst von Bayern nach Österreich transportiert werde, um anschließend zurück nach Bayern gebracht zu werden. Dies sei umso unsinniger, als dem Koordinator dieser Geschäfte all diese Firmen und „Lieferwünsche“ bekannt gewesen seien. Wenn ein wirtschaftliches Interesse an diesen Geschäften jedoch auszuschließen sei, bleibe der zwingende Verdacht, dass mit diesen Vorgängen ausschließlich ungerechtfertigte steuerliche Vorteile erlangt werden sollten. Der Geschäftsführer habe sich – obwohl langjährig und erfolgreich in der Elektro- und Computerbranche tätig - in die vollständig von dritter Seite vorgegebenen Umsatzgeschäfte einbinden lassen. Probleme bei der Abwicklung der Geschäfte seien dem Koordinator mitgeteilt und von diesem geklärt worden. Diese ungewöhnlichen Geschäftsbedingungen habe er nicht in Frage gestellt. Sein einziges Risiko habe darin bestanden, dass das Finanzamt die Steuerfreiheit der erklärten innergemeinschaftlichen Lieferungen nicht anerkennen könnte. Deshalb habe er alles unternommen, um dieses Risiko zu minimieren. So sei die Antragstellerin erst dann in größerem Umfang in die fraglichen Geschäfte eingestiegen, als das Finanzamt die Guthaben aus den Voranmeldungszeiträumen 09/09 und 10/09 erstattet habe. Soweit die Antragstellerin die für die Gewährung der Steuerbefreiung benötigten CMR-​Papiere nicht erhalten habe, habe sie ihre Einkaufsrechnungen nur noch netto gezahlt und die Umsatzsteuer zurückbehalten. So seien ab dem 15.01.2010 Rechnungsbeträge nicht gezahlt worden. Aus dem Umstand, dass die Firma sich darauf eingelassen habe, sei für die Antragstellerin erkennbar gewesen, dass sie nicht die Absicht gehabt habe, die in den Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer an ihr Finanzamt zu entrichten. Dem Geschäftsführer hätte auch klar sein müssen, dass die Antragstellerin für die tatsächliche Lieferung der fraglichen Waren gar nicht erforderlich gewesen sei. Da dem Koordinator Ware und Stückzahl, An- und Verkaufspreise sowie Lieferant und Abnehmer bekannt gewesen seien, habe die Einbindung eines Zwischenlieferanten nur eine unnötige Kostensteigerung bedeutet.

Die Gesamtschau der Vorgänge ergebe, dass der Geschäftsführer bei Durchführung der Geschäfte durchaus bewusst gewesen sei, dass er keine gewöhnlichen Geschäfte abgewickelt habe. Als Branchenkundiger hätte er erkennen können oder müssen, dass er an einem betrügerischen Karussellgeschäft beteiligt gewesen sei. Um sicher zu stellen, dass die Antragstellerin nicht in betrugsbehaftete Umsätze verwickelt werde, hätte sie die Geräteidentifikationsnummern der erworbenen und veräußerten CPUs aufzeichnen können. Dies sei keinesfalls unüblich; die Antragstellerin verfüge selbst über Eingangsrechnungen anderer Lieferanten, in denen – auch bei größerer Stückzahl – Geräteidentifikationsnummern einzeln aufgeführt worden seien. Die Nichtaufzeichnung der Geräteidentifikationsnummern stelle ein weiteres Indiz dafür dar, dass die Antragstellerin zumindest hätte wissen können, dass sie sich an in einen Umsatzsteuerbetrug einbezogenen Umsätzen beteiligt habe.

5. Voraussetzung des Vorsteuerabzugs sei außerdem das Vorliegen einer ordnungsgemäßen Rechnung. Die Rechnungsangaben müssten eine eindeutige und leicht nachprüfbare Feststellung des leistenden Unternehmers ermöglichen. Der in den Rechnungen der Firmen angegebene Sitz habe zum Zeitpunkt der Rechnungsstellung tatsächlich nicht bestanden. Bereits aus diesem Grund sei der Vorsteuerabzug insoweit zu versagen. Bei weiteren vorgelegten Rechnungen habe darüber hinaus die erforderliche Angabe des Steuersatzes gefehlt. Erst nach entsprechendem Hinweis mit Schreiben vom 11.05.2010 seien mit Schreiben vom 16.06.2010 korrigierte Rechnungen eingereicht worden. Auch zu diesem Zeitpunkt habe an der in den Rechnungen angegeben Anschrift kein Unternehmenssitz festgestellt werden können.

6. Über die Leistungen der Koordinatoren der streitigen Geschäfte erteilten die Firmen der Antragstellerin Provisionsrechnungen. In den Rechnungen wird über „Dienstleistung lt. Vertrag“ und „Provision für vermittelte Aufträge“ abgerechnet. Die Prüferin vertrat die Auffassung, ein Vorsteuerabzug aus den Provisionsrechnungen sei mangels hinreichend genauer Bezeichnung der bezogenen Leistung nicht zu gewähren. Zum Zeitpunkt der Prüfung hätten keine unterzeichneten Handelsvertreterverträge vorgelegen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Tz. 8 und Tz. 9 b) des Umsatzsteuer-​Sonderprüfungsberichts vom 31.01.2011 Bezug genommen.




7. Die Prüferin stellte weiter fest, dass für verschiedene im Januar 2010 erklärte innergemeinschaftliche Lieferungen der Antragstellerin (vgl. die Aufstellung in Anl. 4 zum Umsatzsteuer-​Sonderprüfungsbericht vom 31.01.2011) keine Nachweise i. S. v. § 6a Abs. 3 UStG i. V. m. § 17 a Abs. 4 UStDV über die Versendung - insbesondere keine Frachtbrief bzw. keine Spediteurbescheinigungen - vorlägen. Ausgehend von ihrer Annahme, die Antragstellerin sei nur auf dem Papier in die Lieferkette eingeschaltet gewesen, zog sie aus dem Fehlen der Versendungsbelege keine weiteren steuerlichen Folgerungen, wies aber darauf hin, dass eine Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen nicht in Betracht komme (Tz. 7 und 10 des Umsatzsteuer-​Sonderprüfungsberichts vom 31.01.2011).

8. Die Prüferin vertrat weiter die Ansicht, mangels tatsächlicher Einschaltung der Antragstellerin in die Lieferkette bestünden die von der Antragstellerin tatsächlich erbrachten Leistungen darin, Aufträge entgegengenommen und erteilt, Pro-​Forma-​Rechnungen und Rechnungen erhalten und ausgestellt sowie Überweisungen empfangen und getätigt zu haben. Entgelt für diese steuerpflichtigen Leistungen sei die Differenz zwischen den erhaltenen Zahlungen für die angeblich verkaufte Ware und den getätigten Zahlungen an die angeblichen Lieferanten (vgl. zur Berechnung Anlagen 7 a) und 7 b) des Umsatzsteuer-​Sonderprüfungsberichts vom 31.01.2011).

9. Ausgehend von diesen Feststellungen sei die Umsatzsteuer wie folgt zu erhöhen:

   a) Kürzung Vorsteuer aus Lieferanten- und Provisionsrechnungen: 2.116.320,99 € (davon 904.449,48 € in 2009 und 1.211.871,51 € in 1/2010)

b) Umsatzsteuer auf sonstige Leistungen: 89.227,22 € (davon 36.681,81 € in 2009 und 52.545,41 € in 1/2010)

Gegen den entsprechend geänderten Umsatzsteuerbescheid 2009 vom 04.03.2011 und den entsprechend geänderten Umsatzsteuervorauszahlungsbescheid für Januar 2010 vom 18.02.2011 legte die Antragstellerin jeweils Einspruch ein. Über die Einsprüche hat der Antragsgegner bisher nicht entschieden.

Die Antragstellerin beantragt – nach Ablehnung durch den Antragsgegner –

   Aussetzung der Vollziehung des Umsatzsteuerbescheides 2009 und Aufhebung der Vollziehung des Umsatzsteuervorauszahlungsbescheides für Januar 2010 durch das Gericht.

Die Antragstellerin macht geltend:

Sie betreibe seit vielen Jahren und mit einem Jahresumsatz von über 10.000.000 € den Handel mit elektronischen Produkten und Bauteilen und habe ca. 1.250 Kunden und rund 180 Lieferanten. Im September 2009 habe sie damit begonnen, Handelsgeschäfte durchzuführen, bei denen sowohl der Warenlieferant als auch der Abnehmer der Ware durch Vermittler vorgeschlagen worden seien. Für die Vermittlung der Geschäfte sei eine Provision vereinbart worden. Die als Vermittler aufgetretenen Personen seien dem Geschäftsführer der Antragstellerin schon durch eine frühere Kundenbeziehung namentlich bekannt gewesen. Es habe sich bei den Vermittlern somit nicht um „Fremde“ gehandelt. Hinsichtlich der vermittelten Lieferanten und Kunden habe die Antragstellerin die gleichen Kontrollmaßnahmen vorgenommen wie bei ihren sonstigen Geschäftspartnern. Sie habe insbesondere Handelsregisterauszüge und Personalausweiskopien bei den Geschäftspartnern angefordert und qualifizierte Bestätigungen der USt-​Identifikationsnummern nach § 18e UStG eingeholt. Die Waren seien von den Lieferanten zunächst in ein Lager in Bayern geliefert und dann nach Erteilung eines entsprechenden Auftrages durch die Antragstellerin von einer Spedition in Österreich verfrachtet worden. Die Firma biete neben Lagerhaltung und Zollabwicklungen auch einen so genannten „Hold-​for-​release-​Service“ an. Hierbei fungiere sie wie eine Art Treuhänder, der dem Abnehmer von Waren signalisiere, dass diese geliefert und kontrolliert worden seien. Die Freigabe der Waren erfolge erst nach der Zahlung an den Lieferanten. Die Lagerung der angelieferten Waren sei auf der Grundlage von vertraglichen Beziehungen zwischen der Firma und den jeweiligen Kunden erfolgt. Was nach den Lieferungen an das Lager mit der Ware geschehen sei, sei der Antragstellerin nicht bekannt, da sie mit der Lieferung der Ware ihre Vertragspflichten erfüllt habe. Aufgrund der erhaltenen CMR-​Frachtpapiere habe die Antragstellerin keinen Anlass gehabt, an der Durchführung der Transporte zu zweifeln. Die Lieferungen seien immer gegen Vorkasse erfolgt und es habe seitens der Kunden nie Beanstandungen gegeben.

Soweit der Antragsgegner davon ausgehe, die Antragstellerin sei mit den streitigen Umsätzen in ein Umsatzsteuerkarussell eingebunden gewesen, habe die Antragstellerin davon jedenfalls keine Kenntnis gehabt. Die Antragstellerin könne auch rückblickend nicht beurteilen, ob tatsächlich Karussellgeschäfte getätigt worden seien. Die diesbezügliche Feststellungslast trage insoweit der Antragsgegner. Im Hinblick auf die Gutgläubigkeit der Antragstellerin sei zudem zu berücksichtigen, dass ein langjähriger Kunde der Antragstellerin ebenfalls Waren mit einem Umsatzvolumen von ca. 600.000,- € aus diesen vermittelten Geschäften bezogen habe, ohne dass es dabei zu Beanstandungen gekommen wäre.

Soweit der Antragsgegner auf seiner Ansicht nach sehr ungewöhnliche Umstände der Geschäftsbeziehungen verweise, sei dem entgegenzuhalten, dass die Antragstellerin jederzeit habe entscheiden können, ob ein angebotenes Liefergeschäft zustande gekommen sei. Auch seien die Einkaufspreise nicht immer fest vorgegeben gewesen. Die Antragstellerin habe mehrfach mit dem Geschäftsführer der Firma telefoniert und dabei auch über Preise verhandelt. Dass die Antragstellerin nicht sämtliche denkbaren Maßnahmen zur Verhinderung eines vermeintlichen Umsatzsteuerbetruges getroffen habe, führe nicht zum Verlust des Vorsteuerabzugs. Soweit der Antragsgegner eine Aufzeichnung der Geräteidentifikationsnummern fordere, überspanne er die sich aus der EuGH-​Rechtsprechung ergebenden steuerlichen Pflichten. Angesichts der durchgeführten Überprüfungen der Geschäftspartner, der ordnungsgemäßen Lieferpapiere, der unbeanstandeten Zahlungen sowie der umfangreichen Lieferungen an einen Bestandskunden habe kein Anlass für eine - unternehmerisch überflüssige - Aufzeichnung der Geräteidentifikationsnummern bestanden. Es treffe auch nicht zu, dass die der Antragstellerin angebotenen Einkaufspreise derart niedrig gewesen seien, dass sie deshalb habe misstrauisch werden müssen. In der Praxis würden CPUs teilweise deutlich unter den veröffentlichten Herstellerpreisen angeboten. Da es sich um einen internationalen Markt handele, spielten dabei auch Währungsschwankungen eine Rolle. Auch in jüngerer Zeit seien der Antragstellerin CPUs zu Preisen angeboten worden, die - teilweise deutlich - unter veröffentlichten Preisen gelegen hätten.

Zu Unrecht stütze der Antragsgegner die Versagung des Vorsteuerabzugs aus den Rechnungen darauf, dass an dem jeweiligen in den Rechnungen angegebenen Sitz der Lieferanten kein Sitz im Sinne des UStG bestanden habe. Das UStG sehe keine eigene Begrifflichkeit für den Sitz einer GmbH vor. Nach der Rechtsprechung des BFH sei für die nach § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG erforderliche Anschrift bei einer eingetragenen juristischen Person grundsätzlich deren angegebener Sitz maßgebend. Dies stehe im Einklang mit § 35a GmbHG, demzufolge in Geschäftsbriefen, zu denen auch Rechnungen gehörten, der Sitz der Gesellschaft angegeben werden müsse. Es handele sich auch nicht um einen „Scheinsitz“. Die diesbezügliche BFH-​Rechtsprechung könne heute keine Geltung mehr beanspruchen. Angesichts der modernen Kommunikationsformen und Technologien habe gerade die kaufmännische Branche ein Maß an Mobilität erreicht, das einen vollständig ortsunabhängigen Unternehmensbetrieb ermögliche, so dass für die nach § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG erforderliche Anschrift – wie auch der BFH entschieden habe - nach den Umständen des Einzelfalls auch ein „Briefkasten-​Sitz“ mit postalischer Erreichbarkeit der Gesellschaft ausreichen könne. Allein wegen der z.B. für die Rechtsverfolgung immer noch wichtigen postalischen Erreichbarkeit verlange das GmbHG noch eine Geschäftsanschrift im Inland. Unabhängig vom Ort der tatsächlichen Geschäfts- und Verwaltungstätigkeit bleibe aber bei einer GmbH als Leistungserbringerin der Sitz bzw. die im Handelsregister eingetragene Geschäftsanschrift die zutreffende Rechnungsanschrift.

Zudem habe sich das Verständnis vom Sitz der GmbH durch MoMiG grundlegend geändert hat. Die Streichung von § 4a Abs. 2 GmbHG durch das MoMiG habe dazu geführt, dass der Sitz einer GmbH seit dem 1.11.2008 nach dem ab da allein geltenden Abs. 1 der Vorschrift nunmehr nur noch der Ort im Inland sei, den der Gesellschaftsvertrag bestimme. Durch die Neufassung von § 4a GmbHG sei die Entkopplung des Verwaltungssitzes vom Satzungssitz möglich geworden. Nach der Regierungsbegründung sollte deutschen Kapitalgesellschaften damit ermöglicht werden, ihren Verwaltungssitz an einen anderen Ort als den Satzungssitz zu verlegen. Maßgeblich für die von § 35a GmbHG geforderte Angabe auf Geschäftsbriefen sei aber allein der satzungsmäßige Gesellschaftssitz und nicht etwa ein abweichender Verwaltungssitz der Gesellschaft.

Ebenfalls zu Unrecht habe der Antragsgegner den Vorsteuerabzug aus den Provisionsrechnungen wegen unzureichender Leistungsbezeichnung versagt. So reiche es aus, wenn die Rechnungsangaben unter Heranziehung weiterer Erkenntnismittel die Identifizierung des Leistungsgegenstandes ermöglichten. Die Bezugnahme auf andere Dokumente innerhalb einer Rechnung genügten daher den Anforderungen an eine hinreichende Leistungsbezeichnung, so dass die Bezugnahme auf die schriftlichen Handelsvertreterverträge insoweit ausreiche. Ob diese Verträge unterzeichnet gewesen seien oder nicht, sei unerheblich. Eine ausreichende Leistungsbeschreibung setze nämlich nicht voraus, dass auf einen den zivilrechtlichen Schriftformerfordernissen genügenden Vertrag Bezug genommen werde.

Im Verlauf des Antragsverfahrens ist bekannt geworden, dass die Antragstellerin eine Rechnung vom 08.12.2009 über 52.062,50 € (brutto) nicht an diese bezahlt, sondern den Betrag auf ein Privatkonto des Geschäftsführers überwiesen, gleichwohl aber einen entsprechenden Vorsteuer- und Betriebsausgabenabzug vorgenommen hatte. Die Antragstellerin hat daraufhin mitgeteilt, ihr Aussetzungsbegehren hinsichtlich des Jahres 2009 mindere sich entsprechend um 8.312,50 €.

Der Antragsgegner beantragt,

   den Antrag abzulehnen.

Er verweist auf den Umsatzsteuer-​Sonderprüfungsbericht vom 31.01.2011 und trägt ergänzend vor:

Die Antragstellerin habe die aufgrund der objektiven Prüfungsfeststellungen getroffene Würdigung, dass sie ab September 2009 in Umsatzsteuerkarussellgeschäfte verstrickt gewesen sei, nicht entkräften können. Auch wenn einzelne Prüfungsfeststellungen für sich allein betrachtet noch nicht den Schluss auf die Beteiligung an einem Umsatzsteuerkarussell zuließen, so reichten die gewonnenen Erkenntnisse in ihrer Gesamtheit doch aus, diesen Schluss zweifelsfrei ziehen zu können. Gleiches gelte für die Frage, ob die Antragstellerin von der Verwicklung in Karussellgeschäfte Kenntnis gehabt habe oder zumindest hätte haben können.

Soweit die Antragstellerin nunmehr den Anschein erwecke, bei einem Koordinator habe es sich um einen bekannten und vertrauenswürdigen Geschäftspartner gehandelt, stehe dies im Widerspruch zur Aussage des Geschäftsführers, wonach die Koordinatoren ihm nicht persönlich bekannt gewesen seien. Mit den streitigen Geschäften habe die Antragstellerin den bisherigen Kernbereich ihrer wirtschaftlichen Betätigung aufgegeben und sich auf ein außerhalb des bisherigen wirtschaftlichen Erfahrungsbereichs gelegenes Geschäftsfeld begeben. Insoweit sei zu erwarten gewesen, dass die Antragstellerin bei Aufnahme des neuen Handelsbereiches äußerste Vorsicht hätte walten lassen. Es zeuge von einem sehr arglosen Geschäftsgebaren, wenn sich die Antragstellerin bei der Vermittlung von erst seit kurzem betriebenen Geschäften ohne besondere Skepsis auf nur namentlich und durch höchstens einen vorherigen Geschäftskontakt bekannte Personen verlassen habe, zumal diese Geschäfte innerhalb weniger Monate den überwiegenden Teil ihres Gesamtumsatzes ausgemacht hätten und der Antragstellerin praktisch die Möglichkeit der körperlichen Begutachtung der gelieferten Ware genommen worden sei. Auch könne allein die formal korrekte Abwicklung eines Einzelumsatzes innerhalb eines Umsatzsteuerkarussells keine Gutgläubigkeit erzeugen, weil diese formale Korrektheit gerade Kennzeichen der Einzelumsätze innerhalb einer Karussell-​Lieferkette sei.

Gegen die Gutgläubigkeit der Antragstellerin spreche, dass ihre Einkaufspreise für CPUs regelmäßig noch unter den Abgabepreisen der Herstellerfirma gelegen hätten. Wer Waren zu unterhalb der Herstellerpreise liegenden Preise angeboten bekomme, sei zur allergrößten Vorsicht aufgerufen, wenn er auf ein solches Angebot eingehe. Angesichts der festgestellten außergewöhnlichen Umstände im Zusammenhang mit den betroffenen Geschäftsabschlüssen sei es erforderlich gewesen, die Geräteidentifikationsnummern aufzuzeichnen, um die der Antragstellerin obliegenden Sorgfaltspflichten zu erfüllen. Nicht entscheidend sei, ob die Antragstellerin den Nachweis der körperlichen Existenz der gehandelten Waren erbringen könne. Auch bei erfolgreichem Nachweis bleibe es dabei, dass die beanstandeten Geschäftsvorgänge betrugsbehaftet seien. Die vorgeblichen Provisionszahlungen stellen bei Würdigung der bekannten Umstände Entgelte für die Teilnahme an dem Umsatzsteuerkarussell dar.

Soweit die Antragstellerin sich gegen die Versagung des Vorsteuerabzugs wegen unzutreffender Angabe der Anschrift des Rechnungsausstellers wende, werde auf die nach wie vor gültige BFH-​Rechtsprechung hierzu verwiesen. Eine Abkehr des BFH von dieser Rechtsauffassung sei nicht erkennbar. Da in den hier zu beurteilenden Fällen unter der Rechnungsanschrift zum Zeitpunkt der Rechnungserstellung geschäftliche Aktivitäten der Aussteller auszuschließen seien, könne die Argumentation der Antragstellerin nicht überzeugen.




Entscheidungsgründe:


Der Antrag ist nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist er unbegründet.

Gemäß § 69 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 FGO soll die Vollziehung eines Verwaltungsaktes ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsaktes sind zu bejahen, wenn bei der im Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Gründen gewichtige Umstände zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken (vgl. z. B. BFH, Beschluss vom 28.05.1986 I B 22/86, BStBI II 1986, 656).

Nach diesen Grundsätzen bestehen nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Umsatzsteuerbescheides 2009 vom 04.03.2011.

I. Versagung des Vorsteuerabzugs

1. Soweit der Antragsgegner die Versagung des Vorsteuerabzugs darauf gestützt hat, es stehe aufgrund objektiver Umstände fest, dass die Antragstellerin wusste oder hätte wissen müssen, dass sie sich mit den streitigen Umsatzgeschäften an Umsätzen beteiligt habe, die in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen waren, bestehen bei summarischer Prüfung in tatsächlicher Hinsicht im Aussetzungsverfahren nicht ausräumbare Zweifel an dieser Annahme. Dies gilt insbesondere für die insoweit erforderliche Feststellung, dass die Umsatzgeschäfte der Antragstellerin in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen waren. Dem Antragsgegner ist zwar zuzugeben, dass ein Vielzahl von Indizien dafür sprechen, dass es sich bei den streitigen Geschäften um solche handelt, die in Lieferketten eingebunden waren, innerhalb derer es zu einer Steuerhinterziehung gekommen ist. Solche Indizien sind z. B. die wirtschaftlich unsinnige Einbindung der Antragstellerin in die Lieferkette, die wirtschaftliche unsinnige Lieferung von Gegenständen aus einem deutschen Lager in ein österreichisches Lager mit anschließender Weiterlieferung zurück in das deutsche Lager, die Beteiligung von Firmen und natürlichen Personen, die bereits im Zusammenhang mit Umsatzsteuerhinterziehungen auffällig geworden sind und das Handeln mit „typischer Karussellware“. Auch ist nicht abschließend geklärt, ob die von der Antragstellerin erklärten Lieferungen tatsächlich wie rechnungsmäßig dargestellt durchgeführt worden sind. Hierfür sprechen zwar die insoweit vorliegenden Lieferscheine und ggf. die von der Antragstellerin übersandten Aussagen der Zeugen in den vor dem AG M geführten Zivilverfahren gegen die Antragstellerin (Bl. 35 und 107 ff. d. A.), wobei die Zeugeneinvernahme durch das AG M allerdings vermuten lässt, dass die Antragstellerin in diesen Verfahren die Durchführung der Transporte bestritten hat. Andererseits ist – soweit ersichtlich – bisher nicht konkret festgestellt worden, dass die von der Antragstellerin gelieferten Gegenstände in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen waren. Insbesondere hat der Senat den vorgelegten Akten nicht entnehmen können, dass etwa die Abnehmer der Antragstellerin im EU-​Ausland oder deren weiteren Abnehmer hinsichtlich der von der Antragsteller gelieferten Waren keine Erwerbsbesteuerung durchgeführt hätten. Ob dieser gegenwärtige Erkenntnisstand ausreicht, um mit der gebotenen Gewissheit von einer Einbeziehung der Antragstellerin in eine Umsatzsteuerhinterziehung ausgehen zu können, oder ob ggf. noch weitere Feststellungen zu dem vorliegenden, sehr komplexen Sachverhaltsgeschehen zu treffen sind, ist eine im summarischen Aussetzungsverfahren nicht abschließend klärbare Frage, sondern muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Die ebenfalls nicht einfach zu beantwortende Frage, ob die Antragstellerin bzw. ihr Geschäftsführer von einem auf eine Umsatzsteuerhinterziehung angelegten Zweck der jeweiligen Lieferketten wusste oder wissen konnte bzw. hätte wissen müssen, stellt sich erst dann, wenn zunächst eine Einbeziehung der Antragstellerin in einen Umsatzsteuerbetrug hinreichend sicher festgestellt worden ist.




2. Gleichwohl hat der Senat an der Rechtmäßigkeit der Versagung des Vorsteuerabzugs aus Rechnungen keine ernstlichen Zweifel. Bei summarischer Prüfung ist der Antragsgegner zu Recht davon ausgegangen, dass ein Vorsteuerabzug aus diesen Rechnungen ausscheidet, weil sie nicht die nach § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG erforderliche – zutreffende – vollständige Anschrift des leistenden Unternehmers enthält.

Als Vorsteuerbeträge abziehen kann ein Unternehmer nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG die gesetzlich geschuldete und in einer Rechnung i. S. des § 14 UStG gesondert ausgewiesene Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von anderen Unternehmern für sein Unternehmen ausgeführt worden sind. Nach § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG muss die Rechnung u. a. den vollständigen Namen und die vollständige Anschrift des leistenden Unternehmers enthalten. Diesen Anforderungen genügen die vorgelegten Rechnungen bei summarischer Prüfung nicht. Nach der Rechtsprechung des BFH ist bei einer eingetragenen juristischen Person allerdings grundsätzlich deren angegebener – statuarischer – Sitz maßgebend und bedarf es besonderer, detaillierter Feststellungen, um die Annahme eines „Scheinsitzes“ zu rechtfertigen (BFH, Urteil vom 27.06.1996 V R 51/93, BStBl II 1996, 620 und vom 19.04.2007 V R 48/04, UR 2007, 693). Derartige Feststellungen hat das Finanzamt für Fahndung und Strafsachen getroffen.

Danach handelte es sich bei der in den Rechnungen angegebenen Anschrift um die Räume einer Steuerkanzlei. Die Firma verfügte dort weder über eigene Geschäftsräume noch über Mobiliar oder sonstiges Vermögen. Der Geschäftsführer habe sich dort so gut wie nicht aufgehalten; es seien dort weder Arbeitgeberfunktionen ausgeübt noch Geschäfte abgeschlossen worden. Am 16.12.2009 habe die Kanzlei das Mandat niedergelegt. Post sei danach als unzustellbar zurückgekommen. Diese Feststellungen rechtfertigen bei summarischer Prüfung die Versagung des Vorsteuerabzugs. Nach der Rechtsprechung des BFH reicht die Angabe einer Anschrift, an der im Zeitpunkt der Rechnungsausstellung keinerlei geschäftliche Aktivitäten stattfinden, als zutreffende Anschrift für eine zum Vorsteuerabzug berechtigende Rechnung nicht aus, auch wenn der Leistende dort postalisch erreichbar ist (BFH, Urteile vom 27.06.1996 V R 51/93, BStBl II 1996, 620; vom 19.04.2007 V R 48/04, BStBl II 2009, 315 vom 06.12.2007 V R 61/05, BStBl II 2008, 695, vom 30.04.2009 V R 15/07, BStBl II 2009, 744 und Beschluss vom 05.11.2009 V B 5/09, BFH/NV 2010, 478). Auch unter Berücksichtigung des EuGH-​Urteils vom 28.06.2007 C-​73/06 - Planzer Luxembourg Sarl - (UR 2007, 654) kann eine fiktive Ansiedlung in der Form, wie sie für eine „Briefkastenfirma“ oder für eine „Strohfirma“ charakteristisch ist, nicht als tatsächlicher Unternehmenssitz angesehen werden. Erschöpft sich die Funktion einer Räumlichkeit darin, unter dieser Anschrift postalisch und ggf. durch entsprechende Anrufweiterleitung auch telefonisch erreichbar zu sein, ohne dass von dort aus Geschäftsleitungs-​, Verwaltungs- und Arbeitgeberfunktionen wahrgenommen werden, handelt es sich um eine „fiktive Ansiedlung“ im Sinne der genannten EuGH-​Rechtsprechung. Soweit die Antragstellerin geltend macht, nach Streichung des § 4a Abs. 2 GmbHG könne an dieser Rechtsprechung nicht mehr festgehalten werden, vermag ihr der Senat nicht zu folgen. Welche Angaben eine Rechnung enthalten muss, bestimmt sich allein nach Umsatzsteuerrecht. Aus dem Umstand, dass der statuarische Sitz von dem Ort abweichen kann, von dem aus eine GmbH tatsächlich betrieben wird, kann nicht gefolgert werden, dass die Angabe des statuarischen Sitzes immer den Anforderungen des § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG, der nicht die Angabe des „Sitzes“, sondern der „Anschrift“ erfordert, genügt.

Entsprechendes gilt für weitere Rechnungen. Bei der in den Rechnungen angegebenen Anschrift handelt es sich nach den Feststellungen des Finanzamts für Fahndung und Strafsachen um ein „virtuelles Büro“ mit nur telefonischer und postalischer Erreichbarkeit, ohne dass dort geschäftliche Aktivitäten stattgefunden haben. Der Geschäftsführer habe sich nach eigenen Angaben im Dezember 2009 nicht in X, sondern ausschließlich an seinem Wohnort in Großbritannien aufgehalten. Auch diese Feststellungen führen bei summarischer Prüfung zur Versagung des Vorsteuerabzugs.

3. Ernstliche Zweifel bestehen indes an der Versagung des Vorsteuerabzugs aus anderen Rechnungen. Soweit der Antragsgegner die Versagung des Vorsteuerabzugs auch darauf stützt, diese habe zum Zeitpunkt der Rechnungslegung an der angegebenen Anschrift keinen Unternehmenssitz mehr gehabt, fehlt es an nachvollziehbaren konkreten Feststellungen für diese Annahme. Der Umstand, dass das zuständige Finanzamt das Umsatzsteuersignal zum 01.09.2009 gelöscht hat, reicht insoweit nicht aus. Hinsichtlich der betroffenen Firma hat der Antragsgegner keine Feststellungen zu der in der Rechnung angegebenen Anschrift getroffen.

II. Versagung des Vorsteuerabzugs aus den Provisionsrechnungen

Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG setzt der Vorsteuerabzug voraus, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzt. Dies erfordert, dass die dem Unternehmer erteilte Rechnung den Anforderungen des § 14 Abs. 4 UStG entspricht. In der Rechnung muss daher gemäß § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 UStG die Menge und die Art (handelsübliche Bezeichnung) der gelieferten Gegenstände bzw. der Umfang und die Art der sonstigen Leistung angegeben werden. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des BFH, wonach das Abrechnungspapier Angaben tatsächlicher Art enthalten muss, welche die Identifizierung der abgerechneten Leistung ermöglichen. Der Aufwand zur Identifizierung der Leistung muss dahingehend begrenzt sein, dass die Rechnungsangaben eine eindeutige und leicht nachprüfbare Feststellung der Leistung ermöglichen, über die abgerechnet worden ist. Was zur Erfüllung dieser Voraussetzungen erforderlich ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. In der Abrechnung kann auf andere Geschäftsunterlagen verwiesen werden; diese müssen dann aber eindeutig bezeichnet sein (z. B. BFH, Urteil vom 08.10.2008 V R 59/07, BStBl II 2009, 218; Beschluss vom 06.07.2010 XI B 91/09, BFH/NV 2010, 2138 jeweils m. w. N.).

Bei summarischer Prüfung sind diese Voraussetzungen im Streitfall nicht erfüllt. Die Leistungsbeschreibungen „Dienstleistung lt. Vertrag“ und „Provision für vermittelte Aufträge“ dürften insoweit nicht genügen. Die Abrechnung über „Dienstleistungen lt. Vertrag“ vermag die abgerechneten Leistungen nicht hinreichend zu konkretisieren; insbesondere reicht der Zusatz „lt. Vertrag“ insoweit nicht aus. Zwar darf in einer Rechnung auf andere Geschäftsunterlagen verwiesen werden, wenn diese dort eindeutig bezeichnet werden. Allein das Wort „Vertrag“ – ohne jede nähere Spezifizierung oder Datumsangabe - stellt aber keine hinreichend eindeutige Bezeichnung einer konkreten Geschäftsunterlage dar. Ähnliches gilt für die Leistungsbezeichnung „Provision für vermittelte Aufträge“; diese Bezeichnung lässt nicht erkennen, welche Aufträge vermittelt worden sind. Nach der Rechtsprechung des BFH kann es zwar ausreichend sein, wenn ein Handelsvertreter über Vermittlungsleistungen für einen bestimmten Zeitraum abrechnet (BFH, Urteil vom 01.08.1996 V R 9/96, BFH/NV 1997, 381). Vorliegend fehlt aber eine entsprechende Konkretisierung. So hat die Firma mehrfach über „Provision für vermittelte Aufträge“ abgerechnet, ohne dass erkennbar ist, welche der Rechnungen sich auf welche vermittelten Aufträge bezieht. Ernstlich zweifelhaft ist jedoch die Versagung des Vorsteuerabzugs aus einer weiteren Rechnung; insoweit fehlt es – soweit ersichtlich - an Feststellungen zur Leistungsbezeichnung.

III. Erhöhung der steuerpflichtigen Umsätze

Die Erhöhung der steuerpflichtigen Umsätze beruht auf der Annahme des Antragsgegners, dass die Antragstellerin keine umsatzsteuerlich anzuerkennenden (innergemeinschaftlichen) Lieferungen ausgeführt hat, sondern in ein Umsatzsteuerkarussell einbezogen war und sie bzw. ihr Geschäftsführer dies wusste oder wissen konnte bzw. hätte wissen müssen. An dieser Annahme bestehen – wie dargelegt – im Aussetzungsverfahren nicht ausräumbare ernstliche Zweifel. Somit bestehen auch ernstliche Zweifel an der Erhöhung der steuerpflichtigen Umsätze gemäß Tz. 11 des Umsatzsteuer-​Sonderprüfungsberichts vom 31.01.2011.

IV. Unter Berücksichtigung des vorstehend Gesagten bestehen ernstliche Zweifel in folgendem Umfang:

Umsatzsteuer 2009

Versagung Vorsteuerabzug 354.249,30 €
Versagung Vorsteuerabzug 19.209,00 €
Versagung Vorsteuerabzug 1.290,48 €
Erhöhung Umsätze
lt. Tz. 11 des Berichts
36.681,81 €
Summe: 411.430,59 €




Hinsichtlich des Umsatzsteuervorauszahlungsbescheides 1/2010 ist zwar die Erhöhung der Umsätze lt. Tz. 11 des Berichts ebenfalls ernstlich zweifelhaft (Umsatzsteuer 52.545,41 €). Eine Aufhebung der Vollziehung kommt gleichwohl nicht in Betracht. Die ernstlichen Zweifel beruhen – wie dargelegt – darauf, dass im Aussetzungsverfahren nicht hinreichend sicher ausgeschlossen werden kann, dass die Antragstellerin – wie von ihr vorgetragen - tatsächlich umsatzsteuerlich anzuerkennende Lieferungen ausgeführt hat. Unter Zugrundelegung des von der Antragstellerin vorgetragenen Sachverhalts ist aber zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin – nach den unwidersprochenen Feststellungen der Prüferin - für im Januar 2010 ausgeführte Lieferungen; vgl. die Aufstellung in Anl. 4 zum Umsatzsteuer-​Sonderprüfungsbericht vom 31.01.2011) über keine Nachweise i. S. v. § 6a Abs. 3 UStG i. V. m. § 17 a Abs. 4 UStDV für die Versendung - insbesondere keine Frachtbriefe bzw. keine Spediteurbescheinigungen - verfügt. Nach der Rechtsprechung des BFH stellt die Erfüllung der Nachweispflichten nach §§ 17a, 17c UStDV zwar keine materielle Voraussetzung für die Befreiung als innergemeinschaftliche Lieferung dar. Gleichwohl ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung nicht erfüllt sind, wenn der Unternehmer seine Nachweispflichten nicht erfüllt. Etwas anderes gilt nur dann, wenn trotz der Nichterfüllung der formellen Nachweispflichten aufgrund der objektiven Beweislage feststeht, dass die Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 UStG vorliegen. Dann ist die Steuerbefreiung auch zu gewähren, wenn der Unternehmer die nach § 6a Abs. 3 UStG erforderlichen – formellen - Nachweise nicht erbracht hat (BFH, Urteile vom 06.12.2007 V R 59/03 - Nachfolgeentscheidung zum EuGH-​Urteil vom 27.09.2007 Rs. C-​146/05 – Albert Collée –, UR 2007, 813). Bei Zugrundelegung des Vortrags der Antragstellerin wären die vorgenannten Umsätze steuerpflichtig, da die Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 UStG nicht aufgrund der objektiven Beweislage feststehen. Somit ergibt sich auch unter Zugrundelegung des Vortrags der Antragstellerin keine Minderung der Vorauszahlungsschuld für Januar 2010.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO.

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