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Bundesfinanzhof Urteil vom 06.12.2007 - V R 61/05 - Kein Vorsteuerabzug für Briefkastenfirma mit Scheinwohnsitz

BFH v. 06.12.2007: Kein Vorsteuerabzug für Briefkastenfirma mit Scheinwohnsitz




Der Bundesfinanzhof (Urteil vom 06.12.2007 - V R 61/05) hat entschieden:

  1.  Der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer trägt die Feststellungslast dafür, dass der in der Rechnung einer GmbH angegebene Sitz tatsächlich bestanden hat.

  2.  Es besteht eine Obliegenheit des Leistungsempfängers, sich über die Richtigkeit der Angaben in der Rechnung zu vergewissern.

  3.  Die Anforderungen an eine zum Vorsteuerabzug berechtigende Rechnung sind für alle Unternehmer, unabhängig von der Rechtsform, dieselben.




Siehe auch
Scheinsitz - Scheinwohnsitz - Briefkastenfirma - oder Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung?
und
Stichwörter zum Thema Gesellschaftsrecht und Onlinehandel


Tatbestand:


I.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betreibt in Deutschland einen Kfz-Handel und erwarb im Streitjahr (1996) unter anderem Fahrzeuge, die aus Italien reimportiert worden waren.

Aufgrund einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung versagte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) für 1996 den Vorsteuerabzug in Höhe von insgesamt 64 186,10 DM. Dabei handelt es sich um Rechnungen der Firma W in N (Deutschland) sowie um eine Rechnung vom 4. November 1996 mit einem Vorsteuerbetrag von 2 452,17 DM, die nicht an den Kläger, sondern an eine Firma M in M (Deutschland) gerichtet gewesen sei.

Das FA wich von der Umsatzsteuererklärung 1996 insoweit ab und erließ unter dem 20. August 1998 einen Umsatzsteuerbescheid, in dem die Umsatzsteuer um 64 186,10 DM höher als erklärt festgesetzt wurde.

Einspruch und Klage, mit der der Kläger die Herabsetzung der Umsatzsteuer um 61 734,73 DM beantragte, blieben ohne Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) ging nach den Feststellungen der Umsatzsteuerprüfung von folgendem Sachverhalt aus:

Die Adresse in N stellte lediglich eine Scheinadresse dar, da der Rechnungsaussteller dort keine eigenen wirtschaftlichen Aktivitäten entfaltet hatte. KW war vielmehr in Italien ansässig und hatte auch das bei einer Bank in Deutschland eingerichtete Geschäftskonto nicht genutzt. Unter der Anschrift in N war nur ein Büroservice der Firma D ansässig.

Das FG begründete sein Urteil im Wesentlichen wie folgt:

W sei lediglich "papiermäßig" in eine fingierte Lieferkette eingeschaltet gewesen und habe die in Rechnung gestellte Lieferung tatsächlich nicht erbracht.

Nach übereinstimmender Beurteilung der Beteiligten sei als Lieferant der vom Kläger erworbenen Fahrzeuge der in Italien wohnhafte KW anzusehen, der offenbar die Fahrzeuge in Italien gekauft und in Deutschland an deutsche Abnehmer, u.a. den Kläger, weiterveräußert habe. Hierbei habe die Verwendung der Rechnungsanschrift in N dazu gedient, gegenüber den Abnehmern der Fahrzeuge zu verschleiern, dass es sich bei dem leistenden Unternehmer um einen ausländischen Unternehmer gehandelt habe, der bei dem Verbringen der Fahrzeuge nach Deutschland die Besteuerung als innergemeinschaftlichen Erwerb vermeiden und gegenüber seinen Kunden den Eindruck eines inländischen Unternehmers habe erwecken wollen. Jedenfalls im Zeitpunkt der Rechnungserteilung sei aufgrund der Angaben in den Rechnungen nicht leicht und eindeutig festzustellen gewesen, dass leistender Unternehmer der in Italien ansässige KW gewesen sei. Allein die Tatsache, dass KW unter der Anschrift in N ein Gewerbe angemeldet habe und nach Aufgabe der Tätigkeit im Folgejahr beim zuständigen FA eine Umsatzsteuervoranmeldung abgegeben habe, genüge nicht zu seiner Identifizierung. Damit habe lediglich der Büroservice der Firma D ausfindig gemacht werden können. Der Aufwand zur Identifizierung des Unternehmers müsse aber wegen der den Abrechnungspapieren zugedachten Funktion eines Belegnachweises begrenzt sein. Es sei deshalb für die Angabe im Abrechnungspapier zu fordern, dass diese eine eindeutige und leicht nachprüfbare Feststellung des Unternehmers ermögliche.

Die Grundsätze der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), wonach der in Rechnungen einer GmbH angegebene Sitz bei Ausführung der Leistung und Rechnungsausstellung tatsächlich bestehen müsse und ein Scheinsitz anzunehmen sei, wenn am angegebenen Firmensitz keinerlei Geschäftsleitungs- und Arbeitgeberfunktionen, Behördenkontakte und Zahlungsverkehr stattgefunden hätten, müssten bei natürlichen Personen entsprechend Anwendung finden. Die Tätigkeit des Büroservice der Firma D habe sich im Wesentlichen darauf beschränkt, eingehende Telefonanrufe und Postsendungen weiterzuleiten, ohne dass dort eine sonstige unternehmerische Tätigkeit in Form von Geschäftsleitung, Behördenkontakten oder Zahlungsverkehr entfaltet worden wäre.

Bei dem Umfang der von KW unter der Anschrift in N betriebenen Geschäftstätigkeiten (erklärte Umsätze von September bis Dezember 1996 mehr als ... Mio. DM) hätten allein schon in großem Umfang Geschäftsunterlagen (Einkaufs- und Verkaufsbelege, Buchführungsunterlagen, Zahlungsbelege usw.) am angeblichen Geschäftssitz aufbewahrt werden müssen, was aber nicht der Fall gewesen sei. Auch seien keinerlei Gelder über das betriebliche Konto bei der Bank in Deutschland geflossen.

Im Zeitpunkt der Rechnungserteilung sei nicht bekannt gewesen, dass Leistender der in Italien ansässige KW gewesen sei. Vielmehr sei dieser Umstand der Finanzverwaltung erst im Zuge der späteren Ermittlungen der Steuerfahndungsstellen bekannt geworden.

Hiergegen richtet sich die - vom FG zugelassene - Revision.

Im Revisionsverfahren (am 10. November 2005) ist der Umsatzsteuerbescheid für 1996 geändert worden, indem die im Rahmen einer tatsächlichen Verständigung vor dem FG vorzunehmenden Änderungen berücksichtigt wurden.

Mit der Revision macht der Kläger Verletzung materiellen und formellen Rechts geltend.

Er trägt vor, das FG habe seine Sachaufklärungspflicht verletzt, indem es davon ausgegangen sei, dass die Anschrift des KW unbekannt gewesen sei. Das sei unzutreffend. Richtig sei vielmehr, dass jederzeit bekannt gewesen sei, dass KW in Italien ansässig gewesen sei.

Außerdem könnten die vom BFH entwickelten Anforderungen an die Rechnung einer GmbH nicht auf die Rechnung eines Einzelunternehmers übertragen werden. Dies gebiete die Sitz- und Niederlassungsfreiheit innerhalb der EU.

Selbst bei einer GmbH aber könne die Adresse eines Büroservice als Sitz in Deutschland ausreichend sein, sofern geschäftliche Aktivitäten von diesem Standpunkt aus entwickelt würden.

Ob KW seinen steuerlichen Verpflichtungen nachgekommen sei, sei unerheblich, weil es für den Vorsteuerabzug unschädlich sei, wenn sich der leistende Unternehmer dem Zugriff der Finanzbehörden entziehe.




Der Verbrauchsteuercharakter der Umsatzsteuer gebiete es, den guten Glauben des Leistungsempfängers an die vermeintliche Unternehmereigenschaft des Leistenden zu schützen. Er, der Kläger, sei gutgläubig gewesen. Sowohl der Firmenkopf als auch die Rechnungen hätten die Firma W mit der Adresse in N (Deutschland) ausgewiesen. Bei Anrufen habe sich entweder eine Frau D oder KW selbst gemeldet. Bei an die Adresse in N gesendeten Mitteilungen und Rückfragen habe er, der Kläger, immer innerhalb von ein bis drei Tagen eine Antwort oder einen Rückruf erhalten.

Der Vorsteuerabzug sei ihm daher wenigstens im Wege einer Billigkeitsmaßnahme zuzusprechen.

Der Kläger beantragt,

   das Urteil des FG aufzuheben und die Umsatzsteuer um ... DM herabzusetzen;

hilfsweise

den Rechtsstreit unter Aufhebung des FG-Urteils zurückzuverweisen.

Das FA beantragt,

   die Revision als unbegründet zurückzuweisen.





Entscheidungsgründe:


II.

Die Revision ist unbegründet. Sie führt zwar aus verfahrensrechtlichen Gründen zur Aufhebung der Vorentscheidung, hat aber in der Sache keinen Erfolg.

1. Das Urteil des FG hat über die Rechtmäßigkeit des Umsatzsteuerbescheides 1996 vom 13. März 2000 entschieden. An die Stelle dieses Bescheides trat während des Revisionsverfahrens gemäß § 68 Satz 1, § 121 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) der Änderungsbescheid vom 10. November 2005.

Damit liegt dem FG-Urteil ein nicht mehr existierender Bescheid zugrunde mit der Folge, dass auch das FG-Urteil keinen Bestand mehr haben kann (vgl. BFH-Urteile vom 28. August 2003 IV R 20/02, BFHE 203, 143, BStBl II 2004, 10; vom 10. November 2004 XI R 30/04, BFHE 208, 194, BStBl II 2005, 274; vom 23. August 2007 V R 10/05, BFH/NV 2007, 2217).

2. Einer Zurückverweisung an das FG nach § 127 FGO bedarf es nicht, weil sich durch den Änderungsbescheid der bisherige Streitstoff nicht verändert hat. Der erkennende Senat entscheidet deshalb gemäß § 126 Abs. 2 FGO in der Sache selbst und weist die Klage gegen den Umsatzsteuer-Änderungsbescheid vom 10. November 2005 ab.

3. Das FG hat zu Recht den Vorsteuerabzug versagt, weil die Adresse in den Rechnungen nicht die Adresse des leistenden Unternehmers gewesen ist.

a) Ein Unternehmer kann nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes 1993 (UStG 1993) die in Rechnungen i.S. des § 14 UStG 1993 gesondert ausgewiesene Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von anderen Unternehmern für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuerbeträge abziehen. Gemäß § 14 Abs. 1 UStG 1993 muss die Rechnung u.a. den Namen und die vollständige Anschrift des leistenden Unternehmers enthalten. Dabei muss die Rechnung grundsätzlich den richtigen Namen (Firma) und die richtige Adresse des leistenden Unternehmers angeben.

b) Der BFH hat bisher nur in Fällen von Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) entschieden, dass der Abzug der in der Rechnung ausgewiesenen Umsatzsteuer nur möglich ist, wenn der in der Rechnung angegebene Sitz der GmbH bei Ausführung der Leistung und bei Rechnungstellung tatsächlich bestanden hat. Der sog. Sofortabzug der Vorsteuer gebietet es, dass der Finanzverwaltung eine eindeutige und leicht nachprüfbare Feststellung des leistenden Unternehmers ermöglicht wird (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteile vom 29. April 1993 V R 118/89, BFH/NV 1994, 584; vom 17. September 1992 V R 41/89, BFHE 169, 540, BStBl II 1993, 205; BFH-Beschluss vom 31. Januar 2002 V B 108/01, BFHE 198, 208, BStBl II 2004, 622, jeweils mit Nachweisen). Der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer trägt die Feststellungslast dafür, dass der in der Rechnung einer GmbH angegebene Sitz tatsächlich bestanden hat (BFH-Urteil vom 27. Juni 1996 V R 51/93, BFHE 181, 197, BStBl II 1996, 620). Denn es besteht eine Obliegenheit des Leistungsempfängers, sich über die Richtigkeit der Angaben in der Rechnung zu vergewissern.

Diese Grundsätze werden durch das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 28. Juni 2007 C-73/06, Planzer Luxembourg Sarl (BFH/NV Beilage 2007, 418, Umsatzsteuer-Rundschau - UR - 2007, 654 Randnr. 62) bestätigt. Danach lässt sich eine fiktive Ansiedlung in der Form, wie sie für eine "Briefkastenfirma" oder für eine "Strohfirma" charakteristisch ist, nicht als Sitz einer wirtschaftlichen Tätigkeit i.S. von Art. 1 Nr. 1 der Dreizehnten Richtlinie 86/560/EWG des Rates vom 17. November 1986 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Verfahren der Erstattung der Mehrwerststeuer an nicht im Gebiet der Gemeinschaft ansässige Steuerpflichtige (Richtlinie 86/560/EWG) ansehen. Außerdem ist die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Realität ein grundlegendes Kriterium für die Anwendung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (EuGH-Urteil Planzer Luxembourg Sarl in BFH/NV Beilage 2007, 418, UR 2007, 654 Randnr. 43).



c) Die Rechtsformneutralität der Umsatzsteuer gebietet es, diese Anforderungen an alle Unternehmer gleichermaßen zu stellen.

Ob ein "Briefkasten-Sitz" mit postalischer Erreichbarkeit des Unternehmers nach den Umständen des Einzelfalles als hinreichende Adresse des leistenden Unternehmers überhaupt in Betracht kommen kann, hat der Senat nicht zu entscheiden. Das ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn besondere, detaillierte Feststellungen die Annahme eines "Scheinsitzes" rechtfertigen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 181, 197, BStBl II 1996, 620; BFH-Beschlüsse vom 4. Februar 2003 V B 81/02, BFH/NV 2003, 670; vom 19. April 2007 V R 48/04, BFH/NV 2007, 2035).

Das FG hat derartige Feststellungen getroffen. Es hat festgestellt, dass die Verwendung der Anschrift in N nur dazu gedient habe, gegenüber den Abnehmern der Fahrzeuge zu verschleiern, dass es sich bei dem leistenden Unternehmer um einen ausländischen Unternehmer gehandelt habe, der bei dem Verbringen der Fahrzeuge nach Deutschland eine Besteuerung durch die Abnehmer als innergemeinschaftlichen Erwerb habe vermeiden wollen. Die Tätigkeit des Büroservice der Firma D habe sich darauf beschränkt, eingehende Telefonanrufe und Postsendungen weiterzuleiten, ohne dass eine sonstige unternehmerische Tätigkeit in Form von Geschäftsleitung, Behördenkontakten oder Zahlungsverkehr stattgefunden habe. Obwohl die angeblich von N aus betriebene Geschäftstätigkeit mit einem Umsatz von mehr als ... Mio. DM innerhalb von vier Monaten einen erheblichen Umfang gehabt habe, seien in N keinerlei Geschäftsunterlagen aufbewahrt worden und es sei über das Konto bei der Bank in Deutschland auch kein Zahlungsverkehr abgewickelt worden.

4. Die Gewährung des Vorsteuerabzugs aus Billigkeitsgründen kommt nicht in Betracht. Ob die Angaben in der Rechnung überhaupt einem Gutglaubensschutz zugänglich sind, kann im vorliegenden Fall offen bleiben. Wie bereits unter II. 3. b) dargelegt, besteht eine Obliegenheit des Leistungsempfängers, sich über die Richtigkeit der Angaben in der Rechnung zu vergewissern. Das gilt hier in verstärktem Maße, weil der Kläger seinem eigenen Vorbringen zufolge wusste, dass KW einen Wohnsitz in Italien hatte und seine Handy-Nummer eine italienische Vorwahl hatte. Angesichts der unterschiedlichen Besteuerung des Erwerbs im Inland und des innergemeinschaftlichen Erwerbs sind dies Anhaltspunkte, die dem Kläger Anlass zu einer erhöhten Sorgfalt bei der Prüfung der Richtigkeit der Rechnungsdaten gegeben haben.

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