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BGH Beschluss vom 30.04.2015 - I ZR 153/13 - CE-Kennzeichnung von Blutzuckermessstreifen
BGH v. 30.04.2015: Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung der Richtlinie über In-vitro-Diagnostika: CE-Kennzeichnung von Teststreifen für Blutzuckerkontrolle
Der BGH (Beschluss vom 30.04.2015 - I ZR 153/13) hat entschieden:
Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird zur Auslegung der Art. 1 Abs. 2 Buchst. f, Art. 2, 3, 4 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3 und 16 sowie der Anhänge I und IV bis VII der Richtlinie 98/79/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Oktober 1998 über In-vitro-Diagnostika (ABl. Nr. L 331 vom 7. Dezember 1998) in der zuletzt durch die Richtlinie 2011/100/EU der Kommission vom 20. Dezember 2011 (ABl. Nr. L 341 vom 22. Dezember 2011, S. 50) geänderten Fassung folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Muss ein Dritter ein In-vitro-Diagnostikum zur Eigenanwendung für die Blutzuckerbestimmung, das vom Hersteller in einem Mitgliedstaat A (konkret: im Vereinigten Königreich) einer Konformitätsbewertung nach Art. 9 der Richtlinie 98/79/EG unterzogen worden ist, das die CE-Kennzeichnung nach Art. 16 der Richtlinie trägt und das die grundlegenden Anforderungen gemäß Art. 3 und Anhang I der Richtlinie erfüllt, einer erneuten oder ergänzenden Konformitätsbewertung nach Art. 9 der Richtlinie unterziehen, bevor er das Produkt in einem Mitgliedstaat B (konkret: in der Bundesrepublik Deutschland) in Verpackungen in Verkehr bringt, auf denen Hinweise in der von der Amtssprache des Mitgliedstaats A abweichenden Amtssprache des Mitgliedstaats B angebracht sind (konkret: Deutsch statt Englisch) und denen Gebrauchsanweisungen in der Amtssprache des Mitgliedstaats B statt des Mitgliedstaats A beigefügt sind?
Macht es dabei einen Unterschied, ob die von dem Dritten beigefügten Gebrauchsanweisungen wörtlich den Informationen entsprechen, die der Hersteller des Produkts im Rahmen des Vertriebs im Mitgliedstaat B verwendet?
Siehe auch Medizinprodukte und Medikamente - Arzneimittel - Heilmittel
Gründe:
I.
Die Klägerin ist eine Vertriebsgesellschaft der Roche Diagnostics GmbH, die ein Tochterunternehmen der Hoffmann-La Roche AG in Basel ist. Sie vertreibt unter der Bezeichnung "Accu-Chek Aviva" und "Accu-Chek Compact" Teststreifen zur Blutzuckerselbstkontrolle für Diabetiker. Vor dem erstmaligen Inverkehrbringen der Teststreifen in der Europäischen Union hat die Roche Diagnostics GmbH für diese beiden Produkte durch eine Benannte Stelle im Vereinigten Königreich ein Konformitätsbewertungsverfahren in englischer Sprache durchführen lassen, aufgrund dessen die beiden Produkte eine CE-Kennzeichnung erhalten haben.
Die Klägerin vertreibt die beiden Produkte in Deutschland mit Angaben in deutscher Sprache auf der Umverpackung und mit einer in der Verkaufsverpackung einliegenden Gebrauchsanweisung in deutscher Sprache. In den von der Klägerin verwendeten Dosen mit Teststreifen befindet sich eine Kontrolllösung, mit der die Messgenauigkeit des Blutzuckermessgeräts, in dem die Teststreifen verwendet werden, überprüft werden kann. Dazu wird die Kontrolllösung auf einen Teststreifen getropft, der Teststreifen in das Messgerät eingeführt und der gemessene Wert mit den Werten auf der Dose der Teststreifen verglichen. Wenn der gemessene Wert außerhalb der Grenzwerte liegt, weist dies auf eine mangelnde Genauigkeit des Messgeräts hin. Auf dem britischen Markt vertreibt die Klägerin Blutzuckermessgeräte und Blutzuckerteststreifen ausschließlich mit den Messeinheiten "mmol/l". Dagegen bietet die Klägerin in Deutschland Blutzuckermessgeräte an, die entweder die Messeinheiten "mmol/l" oder "mg/dl" verwenden. Auf den von der Klägerin in Deutschland abgesetzten Teststreifendosen sind deshalb die Grenzwerte für die Kontrolllösung auf den Teststreifen sowohl in "mg/dl" als auch in "mmol/l" angegeben.
Die Beklagte ist eine Großhändlerin von Medizinprodukten. Sie vertrieb von der Roche Diagnostics GmbH für das EU-Ausland hergestellte Teststreifen zur Blutzuckerselbstkontrolle "Accu-Chek Aviva" und "Accu-Chek Compact" in Deutschland im Wege des Parallelvertriebs in Umverpackungen, auf denen sie Aufkleber mit Hinweisen in deutscher Sprache anbrachte. Diese lauteten bei dem Produkt "Accu-Chek Compact": "Import und Vertrieb servoprax GmbH - 45485 Wesel Art.-Nr. C2 133 PZN 6404388 1 - C2 133-1-0002.1-0002". Auf dem weiteren Produkt "Accu-Chek Aviva" enthielt das von der Beklagten verwendete Etikett neben vergleichbaren Angaben den Zusatz "In vitro Diagnosticum Blut 50 Teststreifen, 1 Code-Chip Zur Bestimmung von Blutzucker. Zur Selbstanwendung geeignet. Nur für Accu-Chek Aviva, Accu-Chek Aviva Nano und Accu-Chek Aviva Combo. Lagerung +2°C-+32°C. LOT und Verfalldatum siehe Lasche. Bedienungsanleitung beachten. Plasma referenziert. Zur Selbstanwendung geeignet".
Die Beklagte fügte den Verpackungen eine deutsche Sprachfassung der Herstellerinformationen bei, die wörtlich den Herstellerinformationen entsprach, die die Roche Diagnostics GmbH bei den von ihr zum Vertrieb in Deutschland bestimmten Teststreifen verwendete. Auf den Teststreifen des von der Beklagten vertriebenen Produkts "Accu-Chek Aviva" waren die Grenzwerte in der Zeit von Juni bis Herbst 2010 allein in "mmol/l" angegeben.
Nach Ansicht der Klägerin waren die von der Beklagten in der beschriebenen Weise vertriebenen Teststreifen "Accu-Chek Aviva" und "Accu-Chek Compact" ohne ein neues oder ergänzendes Konformitätsbewertungsverfahren in Deutschland nicht verkehrsfähig. Die Klägerin hat die Beklagte wegen des Vertriebs der Teststreifen abgemahnt. Die Beklagte hat in den Niederlanden für die fraglichen Blutzuckerteststreifen vor einer Benannten Stelle ein ergänzendes Konformitätsbewertungsverfahren durchgeführt und die Zertifizierung am 13. Dezember 2010 erhalten.
Mit ihrer gegen die Beklagte erhobenen Klage hat die Klägerin unter anderem beantragt, die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen,
in der Bundesrepublik Deutschland aus Ländern der Europäischen Union und/oder des Europäischen Wirtschaftsraums eingeführte Blutzuckerteststreifenpackungen mit der Kennzeichnung "Accu-Chek Aviva" und/oder "Accu-Chek Compact" mit einer umgestalteten Umverpackung und/oder Gebrauchsanweisung in den Verkehr zu bringen und/oder in den Verkehr bringen zu lassen, ohne dass diese umverpackten In-vitro-Diagnostika zur Eigenanwendung in einem (erneuten oder ergänzenden) Konformitätsbewertungsverfahren überprüft worden sind.
Diesen Antrag hat die Klägerin nachfolgend für erledigt erklärt und später zurückgenommen. Dazu hat sie ausgeführt, sie habe erst nach Klageerhebung erfahren, dass die Beklagte in den Niederlanden ein ergänzendes Konformitätsbewertungsverfahren durchgeführt habe.
Das Landgericht hat die von der Klägerin mit den Anträgen auf Auskunftserteilung, Feststellung der Schadensersatzpflicht und Erstattung von Rechtsverfolgungskosten weiterverfolgte Klage abgewiesen.
Das Berufungsgericht hat den von der Klägerin in der Berufungsverhandlung allein noch hinsichtlich des Vertriebs entsprechender Teststreifen vor dem 13. Dezember 2010 gestellten Anträgen auf Auskunftserteilung und Schadensersatzfeststellung sowie dem Antrag der Klägerin auf Erstattung von Rechtsverfolgungskosten stattgegeben (OLG Frankfurt a.M., GRUR-RR 2013, 524).
Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt, erstrebt die Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage.
II. Der Erfolg der Revision hängt von der Auslegung der im Tenor des vorliegenden Beschlusses genannten Bestimmungen der Richtlinie 98/79/EG über In-vitro-Diagnostika vom 27. Oktober 1998 ab. Vor einer Entscheidung ist deshalb das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.
1. Nach Ansicht des Berufungsgerichts hat die Beklagte durch den Vertrieb der parallelimportierten Teststreifen vor dem Zeitpunkt der ergänzenden Zertifizierung am 13. Dezember 2010 gegen die Kennzeichnungsbestimmungen für In-vitro-Diagnostika verstoßen. Die Beklagte müsse sich gemäß § 3 Nr. 15 Satz 2 MPG wie ein Hersteller behandeln lassen, da sie auf der Umverpackung der Teststreifen für den deutschen Markt ein deutschsprachiges Etikett angebracht und der Packung eine deutschsprachige Gebrauchsanweisung beigefügt habe. Die Gebrauchsanweisung und Etikettierung in deutscher Sprache diene einer sicheren Anwendung des Produkts und müsse daher in einem erneuten oder ergänzenden Konformitätsbewertungsverfahren nach dem Medizinproduktegesetz überprüft werden. Die Beklagte habe zwar nicht selbst eine Übersetzung der Gebrauchsanweisung anfertigen lassen, sondern die deutsche Sprachfassung der Herstellerinformationen der Roche Diagnostics GmbH übernommen. Dieser Umstand ändere aber nichts daran, dass die Gebrauchsanweisung erst durch die Beklagte dem vom Hersteller mit einer anderen Sprachfassung ausgestatteten Originalprodukt beigefügt worden sei. Die Überprüfung einer solchen Veränderung, die stets Fehlerquellen berge und zu Missverständnissen bei der Anwendung der Produkte mit schlimmen Folgen für den Anwender führen könne, habe aus Gründen des Gesundheitsschutzes der Benannten Stelle im Sinne der Richtlinie 98/79/EG oblegen.
2. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt davon ab, ob die Beklagte ein Konformitätsbewertungsverfahren nach der Richtlinie 98/79/EG durchführen muss, wenn sie die aus dem EU-Ausland parallelimportierten Blutzuckerteststreifen "Accu-Chek Aviva" und "Accu-Chek Compact" der Klägerin mit Angaben auf der Umverpackung und der Gebrauchsanweisung in deutscher Sprache versieht und im Inland vertreibt. Dabei entspricht im Streitfall die deutschsprachige Gebrauchsanweisung derjenigen, die die Klägerin im Inland verwendet.
a) Der Klägerin stehen die Ansprüche auf Auskunftserteilung und Erstattung der Rechtsverfolgungskosten sowie dem Grunde nach ein Schadensersatzanspruch nach § 242 BGB, §§ 9, 12 Abs. 1 Satz 2 UWG zu, wenn die Beklagte mit dem Vertrieb der parallelimportierten Teststreifen in der Zeit vor dem 13. Dezember 2010 gegen eine Marktverhaltensvorschrift im Sinne von § 4 Nr. 11 UWG verstoßen hat. Das ist der Fall, wenn die Beklagte mit dem fraglichen Vertrieb ohne Konformitätsbewertungsverfahren nach der Richtlinie 98/79/EG gegen Kennzeichnungsbestimmungen für In-vitro-Diagnostika verstoßen hat (vgl. BGH, Urteil vom 12. Mai 2010 - I ZR 185/07, GRUR 2010, 756 Rn. 8 = WRP 2010, 1020 - One Touch Ultra).
b) Nach der Vorschrift des § 6 Abs. 1 Satz 1 des Medizinproduktegesetzes dürfen In-vitro-Diagnostika als Medizinprodukte in Deutschland nur in Verkehr gebracht werden, wenn sie mit einer CE-Kennzeichnung versehen sind. Nach § 6 Abs. 2 Satz 1 MPG dürfen Medizinprodukte mit der CE-Kennzeichnung nur versehen werden, wenn die auf sie unter Berücksichtigung ihrer Zweckbestimmung anwendbaren grundlegenden Anforderungen nach § 7 MPG erfüllt sind und ein für das jeweilige Medizinprodukt vorgeschriebenes Konformitätsbewertungsverfahren nach Maßgabe der aufgrund des § 37 Abs. 1 MPG ergangenen Medizinprodukte-Verordnung (MPV) vom 20. Dezember 2001 (BGBl. I 2001, S. 3854) durchgeführt worden ist. Für Produkte zur Blutzuckerbestimmung, die in Anhang II Liste B 9. Spiegelstrich der Richtlinie 98/79/EG angeführt sind, sieht § 5 Abs. 2 MPV das Verfahren der EG-Konformitätserklärung nach Anhang IV der Richtlinie 98/79/EG oder das Verfahren der EG-Baumusterprüfung nach Anhang V in Verbindung mit dem Verfahren der EG-Prüfung nach Anhang VI oder dem Verfahren der EG-Konformitätserklärung nach Anhang VII der Richtlinie vor.
c) Die Bestimmungen der §§ 6 und 7 MPG und § 5 Abs. 2 MPV dienen der Umsetzung der Art. 2, 3 und 16 der Richtlinie 98/79/EG. Nach Art. 2 Satz 1 der Richtlinie treffen die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen, damit die Produkte nur in den Verkehr gebracht und in Betrieb genommen werden dürfen, wenn sie bei sachgemäßer Lieferung, Installation, Instandhaltung und ihrer Zweckbestimmung entsprechender Verwendung die Anforderungen der Richtlinie erfüllen. Zu den nach Art. 1 Abs. 1 Satz 2 als Produkte bezeichneten In-vitro-Diagnostika zählen nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie Teststreifen zur Blutzuckerbestimmung. Nach Art. 3 der Richtlinie müssen die Produkte die für sie unter Berücksichtigung der Zweckbestimmung geltenden grundlegenden Anforderungen gemäß Anhang I erfüllen. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt, dass alle Produkte, von deren Übereinstimmung mit den grundlegenden Anforderungen gemäß Art. 3 auszugehen ist, bei ihrem Inverkehrbringen mit einer CE-Kennzeichnung versehen werden müssen. Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie behindern die Mitgliedstaaten in ihrem Hoheitsgebiet nicht das Inverkehrbringen und die Inbetriebnahme von Produkten, die die CE-Kennzeichnung nach Art. 16 tragen, wenn diese einer Konformitätsbewertung nach Art. 9 der Richtlinie unterzogen worden sind. Damit die CE-Kennzeichnung angebracht werden kann, muss der Hersteller für die in der Liste B des Anhangs II genannten Produkte mit Ausnahme der Produkte für Leistungsbewertungszwecke entweder das Verfahren der EG-Konformitätserklärung gemäß Anhang IV (Art. 9 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie) oder das Verfahren der EG-Baumusterprüfung gemäß Anhang V in Verbindung mit dem Verfahren der EG-Prüfung gemäß Anhang VI (Art. 9 Abs. 3 Buchst. b Ziffer i) oder dem Verfahren der EG-Konformitätserklärung gemäß Anhang VII (Art. 9 Abs. 3 Buchst. b Ziffer ii) anwenden. Die Verfahren nach Art. 9 Abs. 3 Buchst. a und b der Richtlinie dienen der Überprüfung, ob die für das Produkt geltenden Bestimmungen der Richtlinie einschließlich der grundlegenden Anforderungen nach ihrem Anhang I eingehalten sind (vgl. Anhang IV Nr. 2 und Anhang V Nr. 1).
aa) Für das Verfahren der EG-Konformitätserklärung muss der Antrag nach Anhang IV Nr. 3.1 4. Spiegelstrich die Dokumentation über das Qualitätssicherungssystem enthalten. Nach Nr. 3.2 Unterabs. 2 Buchst. c 3. Spiegelstrich des Anhangs IV muss die Dokumentation bei Produkten zur Eigenanwendung die Angaben gemäß Anhang III Nr. 6.1 enthalten. Dazu rechnen Angaben, die auf der Kennzeichnung und in der Gebrauchsanweisung des Produkts anzubringen sind (Anhang III Nr. 6.1 3. Spiegelstrich).
Nach Nummer 4.2 Satz 2 des Anhangs IV der Richtlinie 98/79/EG muss es anhand der für die Prüfung der Produktauslegung nach Nr. 3.2 Buchst. c dieses Anhangs beizubringenden Dokumente möglich sein zu beurteilen, ob das Produkt den Anforderungen der Richtlinie entspricht.
Nach Nummer 4.3 des Anhangs IV der Richtlinie 98/79/EG prüft die Benannte Stelle den Antrag, wobei sie vom Antragsteller zur Beurteilung der Übereinstimmung mit den Anforderungen dieser Richtlinie gegebenenfalls die Durchführung zusätzlicher Tests und Prüfungen verlangen kann. Die von ihr dann, wenn die Auslegung den einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie entspricht, ausgestellte Bescheinigung enthält die Ergebnisse der Prüfung, die Bedingungen für ihre Gültigkeit sowie die zur Identifizierung der genehmigten Auslegung erforderlichen Angaben und gegebenenfalls eine Beschreibung der Zweckbestimmung des Produkts.
Nach Nummer 4.4 Satz 1 des Anhangs IV der Richtlinie 98/79/EG müssen Änderungen an der genehmigten Auslegung, die die Übereinstimmung des Produkts mit den grundlegenden Anforderungen dieser Richtlinie oder mit den vorgeschriebenen Anwendungsbedingungen berühren können, von der Benannten Stelle zusätzlich genehmigt werden, die die EG-Auslegungsprüfbescheinigung ausgestellt hat. Nach Nummer 4.4 Satz 2 des Anhangs IV der Richtlinie informiert der Hersteller diese Benannte Stelle über solche Änderungen. Die erforderliche Zusatzgenehmigung wird nach Nummer 4.4 Satz 3 des Anhangs IV der Richtlinie in Form eines Nachtrags zur EG-Auslegungsprüfbescheinigung erteilt.
Zu den grundlegenden Anforderungen gehören nach Teil B Nr. 8.1 Unterabsatz 1 des Anhangs I der Richtlinie 98/79/EG die jedem Produkt beizugebenden Informationen, die unter Berücksichtigung des Ausbildungs- und Kenntnisstandes des vorgesehenen Anwenderkreises die ordnungsgemäße und sichere Anwendung des Produkts und die Ermittlung des Herstellers ermöglichen. Diese Informationen umfassen nach dem Unterabsatz 2 der genannten Bestimmung die Angaben in der Kennzeichnung und in der Gebrauchsanweisung. Nach Teil B Nr. 8.1 Unterabsatz 6 des Anhangs I der Richtlinie 98/79/EG müssen die Gebrauchsanweisung und die Kennzeichnung bei In-vitro-Diagnostika zur Eigenanwendung eine Übersetzung in der/den Amtssprache(n) des Mitgliedstaats enthalten, in dem der Endverbraucher das Produkt zur Eigenanwendung erhält.
bb) Für die EG-Baumusterprüfung enthält der Anhang V der Richtlinie 98/79/EG in seinen Nummern 3 3. Spiegelstrich, 4.1 bis 4.3, 5 und 6.1 entsprechende Bestimmungen. Insbesondere muss die gemäß Nummer 2 2. Spiegelstrich dieses Anhangs mit dem Antrag auf eine EG-Baumusterprüfung einzureichende Dokumentation bei Produkten zur Eigenanwendung nach Nummer 3 3. Spiegelstrich ebenfalls die in Anhang III Nummer 6.1 der Richtlinie genannten Informationen enthalten.
d) Da die Kennzeichnung (Etikettierung) und die Gebrauchsanweisung Gegenstand der Prüfung der Verfahren nach den Anhängen IV und V sind und die Angaben zu den grundlegenden Anforderungen im Sinne des Art. 3 in Verbindung mit Anhang I der Richtlinie zählen, liegt es nahe anzunehmen, dass ein Parallelimporteur die umetikettierten und mit einer deutschsprachigen Gebrauchsanweisung versehenen In-vitro-Diagnostika zur Eigenanwendung für die Blutzuckerbestimmung nicht ohne entsprechendes zusätzliches Konformitätsbewertungsverfahren in Deutschland in den Verkehr bringen darf (vgl. BGH, GRUR 2010, 756 Rn. 10 ff. - One Touch Ultra; Hill/Schmitt, Wiko Medizinprodukterecht, 10. Lief., Juli 2011, § 6 MPG Rn. 3; Stallberg, MPR 2010, 113, 114 ff.; Juknat/Klappich/Klages, PharmR 2010, 488, 489 f.; Fulda, MPR 2011, 1, 2 ff.; aA Plöger in Schorn, Medizinprodukterecht, 27. Lief., März 2013, § 6 MPG Rn. 4; Edelhäuser in Prütting, Fachanwaltskommentar Medizinrecht, 3. Aufl., § 6 MPG Rn. 7b; Rehmann in Rehmann/Wagner, MPG, 2. Aufl., Einf. Rn. 54 f. und 57 sowie § 3 Rn. 20; Schorn, MPJ 2010, 270 ff.).
Nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. f Unterabsatz 2 Satz 1 der Richtlinie 98/79/EG gelten die dem Hersteller nach dieser Richtlinie obliegenden Verpflichtungen grundsätzlich auch für natürliche oder juristische Personen, die vorgefertigte Produkte montieren, abpacken, behandeln, aufbereiten oder kennzeichnen oder für die Festlegung der Zweckbestimmung als Produkt im Hinblick auf das Inverkehrbringen im eigenen Namen verantwortlich sind. Eine Ausnahme besteht nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. f Unterabsatz 2 Satz 2 der Richtlinie nur für Personen, die bereits in Verkehr gebrachte Produkte für einen namentlich genannten Patienten entsprechend ihrer Zweckbestimmung montieren oder anpassen. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Einer erweiternden Auslegung der Ausnahmebestimmung des Art. 1 Abs. 2 Buchst. f Unterabsatz 2 Satz 2 der Richtlinie steht entgegen, dass eine nicht von einer Benannten Stelle überprüfte Übernahme der Kennzeichnung und der Gebrauchsanweisung eines entsprechenden Produkts die Gefahr von Fehlern in sich birgt, die zu Gesundheitsgefährdungen bis hin zu Schädigungen der Patienten führen können. Dass es sich dabei nicht um eine zu vernachlässigende Gefahr handelt, zeigt der Streitfall. Die von der Beklagten vertriebenen Dosen der Teststreifen "Accu-Chek Aviva" enthielten von Juni bis Herbst 2010 die Grenzwertangaben allein in "mmol/l" und nicht auch in "mg/dl". Bei diesen Teststreifen ist für die Verwendung in Messgeräten mit den Messeinheiten "mg/dl" eine Umrechnung erforderlich, die zu einer fehlerhaften Anwendung durch den Verbraucher führen kann. In diesem Zusammenhang ist Erwägungsgrund 19 der Richtlinie von Bedeutung. Danach umfasst der in der Richtlinie angesprochene Herstellungsvorgang auch die Verpackung der Medizinprodukte, sofern die Verpackung im Zusammenhang mit Sicherheitsaspekten des Produkts steht, was der Senat vorliegend bejahen möchte.
e) Im Streitfall könnte für die Beantwortung der Vorlagefrage weiterhin von Bedeutung sein, dass die von der Beklagten beigefügte Gebrauchsanweisung wörtlich der Gebrauchsanweisung entspricht, die die Klägerin bei dem Vertrieb der Produkte in Deutschland verwendet. Darauf bezieht sich die Ergänzung der Vorlagefrage.
Nach Ansicht des Senats sollte sich dieser Umstand nicht zu Gunsten des Parallelimporteurs auswirken. Die Erforderlichkeit der Durchführung eines Konformitätsbewertungsverfahrens hängt nach den einschlägigen Vorschriften der Richtlinie 98/79/EG nicht davon ab, dass noch kein Konformitätsbewertungsverfahren durchgeführt worden ist. Der Umstand, dass Letzteres bereits der Fall war, kann die Durchführung des neuen ergänzenden Konformitätsbewertungsverfahrens erleichtern und beschleunigen. In dem neuen Verfahren kann die Prüfung darauf beschränkt werden, ob die jeweiligen Angaben auf der Verpackung und in der Gebrauchsanweisung - auch unter Berücksichtigung der weiteren Umstände, unter denen sie erfolgen - tatsächlich mit den Angaben übereinstimmen, die bereits Gegenstand des vom Hersteller durchgeführten Konformitätsbewertungsverfahrens waren.